Bild: Views – der erste Krimi von Marc-Uwe Kling ist kürzlich erschienen., Kleinkünstler Marc-Uwe Kling versucht sich als Autor Sharleen Wolters

Mit „Views“ hat Marc-Uwe Kling sich in ein neues Genre der Literatur vorgewagt und seinen ersten Krimi veröffentlicht. Doch gelingt dem Kleinkünstler aus der WG mit dem Känguru der Wechsel?

Das Cover und der Umschlag, beziehungsweise die Hülle von „Views“, verraten zunächst kaum etwas über den Inhalt des Krimis: Sie bestehen aus einer verschwommenen Fotografie, und der Warnung vor sensiblen Inhalten. Die Triggerwarnung ist auch durchaus angebracht bei der Handlung, über die jedoch kein Klappentext etwas verrät. Ähnlich einem Bild oder Reel in Social Media, wird man auch als Lesende:r (beziehungsweise in meinem Fall, Hörende:r) mit dem Content konfrontiert.

Lena Palmer ist eine Teenagerin. Die 16-jährige wurde von ihrem Vater als vermisst gemeldet, es fehlt jede Spur von ihr. Drei Tage später taucht im Internet ein Video auf, welches zeigt, wie sich drei vermeintliche Ausländer an dem Mädchen vergehen. Wegen ihres eigenen Migrationshintergrunds wird die BKA-Kommissarin Yasira Saad mit dem Fall betraut. Sie und ihre Kolleg:innen müssen in dieser brisanten Lage die Nerven bewahren und den Balanceakt schaffen zwischen der Suche nach Opfer und Tätern und dem Umgang mit zunehmenden Unruhen innerhalb der Gesellschaft. Denn das Internet hat zu dem Video eine Menge zu sagen und die Rechten stehen schon in den Startlöchern.

Von Satire zu Krimi

Kling ist den meisten für seine humoristischen „Känguru-Chroniken“ oder die satirische Dystopie „Qualityland“ bekannt. Besonders Erstere leben als Hörbuch auch von der Stimme des Autors, der dem Känguru eine unverwechselbare Stimme gegeben hat welche auch die Hörbuchfassungen von „Qualityland“ bereichert. „Views“ liest der Autor ebenfalls selbst vor, weshalb ich mich beim Kauf für die Hörbuchversion entschied, mit der Erwartung, dass auch hier die Stimme von Kling entscheidend zum Hörerlebnis beitragen würde.

„Views“ ist jedoch keinesfalls humoristisch geschrieben, sondern sehr ernst. Diese Ernsthaftigkeit wird auch beim Hören transportiert, die Geschichte funktioniert jedoch auch gut ohne die Stimme des Autors als Buchlektüre. 

Der Krimi beschäftigt sich mit hochaktuellen Fragen: Welchen Einfluss haben die Sozialen Medien und die umgehende Verbreitung von Inhalten auf uns als Gesellschaft? Und welche Gefahren lauern im Internet? Bei „Views“ kann man sich auf kurze Sätze und einfache Wörter einstellen. Die Geschichte, die sich über knapp 270 Seiten (oder etwas mehr als fünfeinhalb Stunden) erstreckt, nimmt nach einem etwas trägen Anfang schnell an Fahrt auf und bleibt bis zum Ende spannend. Die Charaktere sind divers, besonders die Hauptfigur, BKA-Ermittlerin Yasira Saad, bleibt nachvollziehbar und sympathisch.

Mehr Gesellschaftskritik als Krimi

Wer nun einen Krimi à la Fitzek und Co. erwartet, wird bei „Views“ enttäuscht sein. Denn der Roman ist mehr Gesellschaftskritik als Krimi – ein Terrain auf dem sich Kling sicher fühlt, und das er nun auch in ernster Weise zu vermitteln vermag. Die Ermittlungen rund um den Fall Lena Palmer rücken jedoch im Laufe der Handlung immer mehr in den Hintergrund. Sie bleiben treibende Kraft, lösen jedoch so viel in der Gesellschaft aus, dass eben diese Entwicklungen die eigentliche Handlung spannend machen. 

Kling zeigt, dass er zu Recht einer der besten deutschen Gesellschaftskritiker:innen ist und bleibt. Er erkennt die Chancen und Probleme der Gesellschaft und schafft es auf schlaue Weise, große politische Entwicklungen und individuelle Lebensumstände miteinander zu einer stimmigen Geschichte zu vereinen. „Views“ ist mehr als nur sein sensibler Inhalt: Es ist ein Werk, bei dem es nur eine Frage der Zeit ist, ob und wie es die Gegenwart darstellt.

:Sharleen Wolters

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Klare Kante ist bei Dietmar Dath selbstverständlich: Die zeigt in seinem Roman „Deutsche Demokratische Rechnung“ nicht nur seine Hauptprotagonistin, sondern auch der Autor selbst. Eine Liebeserklärung an die junge linke Szene.

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Frauen und Männer sind heute vor dem Gesetz gleich. Hat der Feminismus seinen historischen Zweck damit erfüllt? Hat er sich gar längst überlebt, wie häufig zu hören ist? Keineswegs! Denn Frauen sind in unserer Gesellschaft noch immer strukturell benachteiligt. Das neue Buch von Anke Domscheit-Berg macht deutlich, wie weit wir von Geschlechtergerechtigkeit in Wahrheit entfernt sind.

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Bild: Überall leere, metallene Gesichter: Der Codex Roboticus zwischen düsterm Comic und Dokumentation., Buchrezension: „Codex Roboticus“: Als die Maschinen beinahe den Menschen ablösten Bild: Das Wilde Dutzend Verlag

Der Golem ist Geschichte. Der Prometheus „steigt aus dem Lichtbogen des Verstandes hervor. Er ist ganz Industrie, und seine Ordnung ist auch die Ordnung der neuen Welt.“ Besessen von dieser Idee baute Dr. Stanislaus Schwenck, Pferdeveterinär im Ersten Weltkrieg, Somnambulist und Drogen konsumierender Kriegstreiber, in den 1920er Jahren transhumane Kampfmaschinen. Er löste die Grenze zwischen Mensch und Maschine auf. Die Frage nach der Moral hinter diesem Handeln brachte den irren Doktor noch mehr um den Verstand. Sie – und nicht nur sie allein – wird auch die LeserInnen beschäftigen.

Die Aufzeichnungen des ominösen Arztes gingen durch okkulte und studentische Hände, stets verdeckt in zwielichtigen Kreisen. Der „Codex Roboticus“ versammelt Fotografien, Tagebucheinträge und Militärdokumente aus Schwencks Nachlass wie auch frühneuzeitliche Quellen und Illustrationen aus späteren Nachdrucken. Das eindrucksvolle Bildmaterial hat auf jeder Seite eine beklemmende Wirkung.

„Aber die Maschine machte sich Masken und verbarg sich unter den Menschen.“ Cyborgs in der Weimarer Republik? Konnte so ein Projekt tatsächlich über die verwirrten Skizzen eines kranken Geistes hinausgehen? Die Fotos zeigen eindeutig den klobigen Roboter auf nebelbedecktem Kopfsteinpflaster. Neben den groben Skizzen finden sich technische Blaupausen. Überall diese leeren, metallenen Gesichter. Aus den Tagebucheinträgen wird ein düsterer Comic, als sei es eine Szene aus einem schlechten Drogentrip. Ein Comic? Oder hat es diesen Schwenck wirklich gegeben? Was macht der Professor, der das Vorwort verfasst hat, genau?

Dokumentation, Bildband, Erzählung? Alles davon!

In einer Welt wie der heutigen, in der Wissen und Fiktion so gut ineinandergreifen und einander befruchten können wie noch nie, in der ein Kunstwerk schon lange nicht mehr auf ein Medium beschränkt sein muss, scheint es, dass wir in den Kategorien von Buch, Bild, Film, ja, sogar in Textgattungen wie Roman und Essay festgefahrener sind denn je. Und dann kommt Jens Maria Weber mit einem Buch wie dem „Codex Roboticus“ daher und präsentiert eine mutige, unglaublich aufwändige und in höchstem Maße kreative Umsetzung eines faszinierenden Stoffes.

Mit jeder Seite fragt man sich mehr, was für eine Art Werk man in den Händen hält. In dem Maße, wie dieses Buch mit seiner bloßen Existenz für die Aufhebung von Grenzen zwischen Formen der Darstellung, zwischen wahr und erfunden einsteht, warnt die Geschichte vor der Aufhebung der Grenzen zwischen Mensch und Menschgemachtem.

:Marek Firlej

Jens Maria Weber: „Codex Roboticus“
Das Wilde Dutzend Verlag. November 2014.
95 Seiten, 24,95 Euro.