Bild: Ein kurioses Bild: Unwissentlich nahm eine Fitnesstrainerin den Militär-Coup in Myanmar auf. , Putsch in Myanmar Bild: stem

Kommentar. Im Konflikt um Myanmar hat weder das Militär noch die Zivilregierung die moralische Hoheit. Was sagt das über die Widerstandsfähigkeit von Demokratien aus?

Es gibt keine guten Seiten in dem Coup, der sich vergangene Woche in Myanmar abspielte. Als das Militär Staatsrätin Aung San Suu Kyi und Präsidenten Win Myint, deren Legislaturperiode nach einer äußerst erfolgreichen Wiederwahl beginnen sollte, entmachtete, erschienen reihenweise Fragezeichen über den Köpfen westlicher Beobachter:innen. Denn weder Aung San Suu Kyi noch das Militär genießen viel Sympathie. Doch wagen wir zunächst einen Schritt zurück. Myanmar ist eine südostasiatische Republik, in der 2010 erstmals Wahlen stattfanden, nachdem von 1988 bis 2010 eine Militärdiktatur herrschte. Im Zentrum der Ablösung von Militärdiktatur zur Republik stand die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die sich für eine Demokratisierung einsetzte und sich für 15 Jahre unter einem militärischen Hausarrest befand. Als das Militär 2011 seine Macht zunächst friedlich an eine zivile Regierung abgab, erließ es gleichzeitig Wahlgesetze und beschränkte die Verfassung, so dass Aung San Suu Kyi explizit von der Ausführung des höchsten Amtes ausgeschlossen war. Denn sowohl ihr Vater, ein Revolutionär, als auch sie selbst haben sich gegen die Militärdiktatur eingesetzt. Auch nachdem Aung San Suu Kyi 2016 erstmals zur Staatsrätin gewählt wurde, musste sie die heiße Nadel des Pakts stricken, durch den sich Militär und Zivilregierung im Land die Macht teilten. Mit einer erheblichen Ausnahme: Als das Militär ab Oktober 2016 den Völkermord an den Rohingya begang, einer muslimischen Minderheit im mehrheitlich buddhistischen Myanmar, blieb  Aung San Suu Kyi still und ging sogar so weit, die Gräueltaten herunterzuspielen und vor der internationalen Gemeinschaft zu verteidigen. Doch auch dies genügte nicht, um ihre Differenzen mit dem Militär zu bereinigen. 

Die Lehre, die manche Politikbeobachter:innen nun aus dem Coup ziehen, ist die Erkenntnis, wie fragil Demokratien sind und sie deshalb noch stärker geschützt werden müssen. Hier verpassen viele westliche Kommentator:innen die wahre Tiefe des Problems zu sehen, das im Kern ein Dilemma der Demokratie ist. Eine tiefergehende Frage wäre, was eine Demokratie schützenswert macht, wenn sie sich willentlich an einem Genozid beteiligt. Ob nun ein Militär, das den Genozid ausführte, oder eine demokratische Mehrheitsgesellschaft, die diesen forderte, das geringere Übel ist, ist schwer fassbar. Ein Problem liegt darin, dass Demokratie in einem geblendeten Blick häufig mit einer freiheitlichen Gesellschaft gleichgesetzt wird, als seien diese beiden Merkmale auf ewig in heiliger Ehe vereint. Dass diese Systeme komplett getrennt sein können, wagen viele nicht zu gedenken. Doch die breite demokratische Unterstützung nicht zuletzt für Aung San Suu Kyi zeigt, dass demokratisch gewählte Vertreter:innen, aber auch die Wähler:innen selbst, zutiefst unfreiheitliche Einstellungen haben können.  

Natürlich ist das Festhalten an einer demokratischen Verfassung die einzige Möglichkeit für eine faire, gemeinschaftliche und gerechte Gesellschaft. Doch dass dies keine Garantie ist, ist eine Erkenntnis, die mindestens zu Aristoteles zurückgeht, der die Ausnutzbarkeit von Demokratien durch Populist:innen anerkannte, lange bevor es Donald Trump, Jair Bolsonaro in Brasilien, Rodrigo Duterte in den Philippinen, Faschist:innen oder Aung San Suu Kyi gab. Dass diese sich zum Schock der internationalen Gemeinschaft in diese Kategorie einreiht, offenbart eine fehlende Bereitschaft, Demokratie als ein komplexes System von gegenläufigen Motivationen zu begreifen, in dem ehemalige Friedensnobelpreisträger:innen gleichzeitig Völkermörder:innen sein können. Während Aristoteles die (direkte) Demokratie deshalb auf der einen Seite ablehnte und aktuelle Beobachter:innen das Mantra wiederholen, dass Demokratie einfach nur stärker geschützt werden muss, sollte eigentlich das Dilemma anerkannt werden, dass Demokratien nicht per se moralisch sind, aber dennoch als einzige die Möglichkeit von Gerechtigkeit bieten. 

  :Stefan Moll

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