Bild: Stolpersteine in Bochum: Neben der Erinnerung an die Opfer der Shoa untersuchen Psycholog*innen vermehrt die Täter*innen, um Erklärungsansätze für Gewalttaten zu finden., Vortrag über kollektive Gewalt Symbolbild

Antisemitismus. Im vollen Raum erklärte Prof. Jürgen Margraf vergangenen Donnerstag, wie scheinbar alltägliche Personen zu Täter*innen der Shoa werden konnten. Dabei stellte er heraus, dass dies erschreckend einfach ist.

Die Sitzreihen des Blue Squares waren voll besetzt, um Prof. Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, über die „Psychologie von Opfern und Tätern im Konzentrationslager“ zuzuhören. Daher mussten schon vor Beginn des Vortrasgs mehrere Zuhörer*innen an den Türen der Veranstaltung, die innerhalb der Aktionswochen gegen Antisemitismus (:bsz 1189) stattfand, zurückgewiesen werden. Das steigende Interesse für die Psychologie von Täter*innen ist jedoch nicht nur auf die Besucher*innen im Blue Square beschränkt. Denn auch die Wissenschaft beschäftigt sich vermehrt mit kollektiven Gewalttaten und untersucht beispielsweise, wie der Genozid an den europäischen Juden und Jüdinnen auf individueller Ebene und systematischer Ebene entstehen konnte. „Über die Täter wurde viel weniger geforscht. In den letzten Jahren änderte sich das“, so Margraf.

Normale Persönlichkeiten

Ein essentieller Punkt sei dabei, dass es auf individueller Ebene keine besonderen Persönlichkeiten bedarf, um beispielsweise zu einem Gefängniswärter in einem Konzentrationslager zu werden. „Sicher sind auch einige Fanatiker unter den Tätern, doch diese bilden bei weitem nicht die Mehrheit ab“, sagt Margraf. Dies spiegelt sich auch in dem Konzept der Banalität des Bösen wieder, welches Hannah Arendt in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ beschreibt. Aufgrund der vermeintlichen Normalität von Täterpsychologien sei es notwendig, dieses Feld weiter zu erforschen. Auch aufgrund dieser Normalität seien die Täter*innen des NS-Regimes in der Lage gewesen, sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs größtenteils ohne psychische Probleme in die Gesellschaft zu reintegrieren „Das wirft grundlegende psychologische Fragen auf in Anbetracht dieser Menschen“, hebt der Psychologe hervor. Einer der psychologischen Mechanismen, die dabei zum Tragen kommen ist beispielsweise der der Umkehrung, wobei Täter*innen- und Opferrollen in den Köpfen der Täter umgedreht werden.


Gefährliche Situationen

Mehr als individuelle Veranlagungen seien hingegen Situationen dafür verantwortlich, dass Menschen sich Gewalttaten hingeben. „Wir sind viel mehr von Umständen gesteuert, als uns lieb ist“, so Margraf. So ist es einfach, Menschen schon durch leichte Drucksituationen und autoritäre Anweisungen, zu Verhalten zu bringen, dass entgegen ihres ausgesprochenen Willens verläuft. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Milgram-Experiment, bei dem eine Versuchsperson einer anderen Person auf Anweisung Elektroschocks verabreicht. Zwar steht das Experiment mittlerweile in der Kritik, doch auch Folgeexperimente konnten ähnliche Effekte nahelegen.
Für eine Gesellschaft, die sich der Banalität des Bösen bewusst ist und von den Gruppendynamiken weiß, die zu Massengewalt führen kommt Margraf im Laufe seines Vortrags mehrfach auf ein Stufenmodell zurück. So soll eine Gesellschaft, die sich der Gefahr von kollektiver Gewalt bewusst ist, schon an frühen Punkten, an denen Situationen geschaffen werden, die zu Gewalttaten führen könnten, aufmerksam gemacht werden.

:Stefan Moll

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