Bild: Triste Familiengeschichte und Kaleidoskop der französischen ArbeiterInnenklasse: „An den Rändern der Welt“ von Olivier Adam. , Olivier Adams neuer Roman „An den Rändern der Welt“ Cover: Klett-Cotta

Olivier Adams Roman schildert nicht nur die Familiengeschichte eines whiskeykippenden Schriftstellers, sondern auch die sozialen Eruptionen der französischen Gesellschaft.

 

„Sozialautor“ ist so ein Wort, das nur LiteraturkritikerInnen einfallen kann. Es riecht nach angestrengt-verrenkter Feuilleton-Prätention. Die darin eingeordneten SchriftstellerInnen bringen die ausgebrüteten Etikettierungen besonders auf die Palme. So auch Paul Steiner, der Hauptprotagonist von Olivier Adams jüngstem Roman „An den Rändern der Welt“. Auf einer Verlagsparty muss er sich mit VertreterInnen dieser feuilletonistischen Zunft herumplagen, die ihn, das ArbeiterInnenkind aus einer Pariser Banlieue, das es zu einem renommierten Schriftsteller geschafft hat, zu dieser Gattung zählen. Dieser Paul Steiner ist so etwas wie das Alter Ego von Olivier Adam – beide sind nicht nur der Pariser Vorort-Tristesse entflohen, sie sind zugleich auch mit Romanen über gebrochene Existenzen an den Rändern der Großstadt erfolgreich: DeserteurInnen, die an ihrer Herkunft als auch an ihrem Image zu knabbern haben.

 

Wesentlich für die Handlung des Romans ist jedoch zunächst das, was diesen Hauptprotagonisten von seinem Schöpfer unterscheidet, denn der findet sich zu Beginn alleine wieder. Seine Frau hat ihn verlassen, ihre gemeinsamen Kinder sieht er nur noch an Wochenenden. Zu allem Überfluss erhält er dann noch einen Anruf von seinem Bruder: Seine Eltern sind krank und benötigen seine Hilfe. Für den selbstbezogenen Schriftsteller heißt es nun, in die Vorstadt, ins elterliche Haus zurückzukehren – die Umgebung, die er schon in der Kindheit als Hölle empfand und von der er Richtung Paris floh.

Zwischen den Klassen

Adam führt seine Hauptfigur als abgefuckten Whiskeytrinker ein: Übergewichtig, zu lange, ungepflegte Haare, ausgefallene Zähne, steifer Rücken; „ich litt unter schrecklicher Migräne, und meine Leber winselte um Gnade“, jammert er nach der Trennung. „Auch wenn ich nach ein paar Wochen auf den Stock verzichtet hatte, war ich ein kaputter Typ“. Seine Frau Sarah gab dem psychisch labilen Schriftsteller zuvor immer Halt, doch die bändelt nun mit einem „George-Clooney-Klon“ an. Adam schickt seinen Hauptprotagonisten schnell an den Abgrund: Als sich seine Mutter den Oberschenkel bricht und sein Vater zu Hause nur schwer zurecht kommt, zieht es Paul in seinen Heimatort.

 

Die zunehmende geistige Umnachtung seiner Mutter und der geplante Umzug seines Vaters in eine Seniorenresidenz zwingen ihn, für ein paar Tage in dieser Umgebung zu verweilen. Er konnte ihr nie ganz entfliehen und sie veranlasst ihn jetzt dazu, über seine Jugend hier nachzudenken, warum etwa seine Erinnerung erst bei einem Selbstmordversuch mit zehn Jahren einsetzte. „Ich war auf dem Treibsand der Einfamilienhaussiedlungen, der Vorstädte ohne Anfang und Ende aufgewachsen, und meine Kindheit hatte sich irgendwohin verflüchtigt.“ Als er durch ein Fotoalbum blättert, stößt er dann auf ein Familiengeheimnis: Anscheinend hatte Paul einen Zwillingsbruder, der kurz nach seiner Geburt starb – ein „Doppelgänger“, der das Unglück, das „Gefühl eisiger Traurigkeit“, das die familiäre Atmosphäre immer ausmachte, zu erklären scheint.

 

Schnell brechen alte Konflikte innerhalb der Familie auf: mit seinem Bruder, einem konservativen Tierarzt, der rechts wählt. Genauso mit seinem mürrischen Vater, der ebenso damit kokettiert, „die Tochter des Einäugigen“ (Marie Le Pen) zu wählen. Beide werfen ihm, dem linken Intellektuellen, sowieso schon seit geraumer Zeit vor, mit seinen Romanen, seinen Radio- und Fernsehinterviews über das Geschriebene ein Müßiggänger, ein „alternativer Wohlstandsbürger“ zu sein. Auch wenn diesem depressiven Romancier der Rest-Habitus eines ArbeiterInnenkindes in den Knochen steckt, so beschreibt er sich trotzdem als einen, der desertiert ist, trostlos im Treibsand zwischen den Klassen steckt: „Auch wenn ich mich in der intellektuellen Bourgeoisie immer noch unwohl fühlte, die im wesentlichen das Milieu bildete, in dem ich mich aus beruflichen Gründen manchmal bewegen musste, war ich auf die andere Seite gewechselt“, reflektiert er über die eigene Lage. „Allem, was ich sagte oder schrieb, zum Trotz war ich nicht mehr von hier. Und da festzustehen schien, dass ich auch niemals woanders zu Hause sein würde, war ich dazu verurteilt, im Nirgendwo herumzuirren.“

Selbstgefälliges Geschwafel

Dass dieser schweigsame, introvertierte Whiskeytrinker über weite Strecken hinter den Ich-Erzähler zurücktritt, tut dem Roman nicht immer gut: Zu oft, zu lange ergeht sich Adams Erzähler auf den insgesamt 422 Seiten in selbstgefälligem, melancholischen Geschwafel – man kommt dabei nicht um den Eindruck herum, dass in den ständigen, ausdauernden Selbstkasteiungen des Alten Ego Adams der Autor selbst spricht.

 

Substanzloser Selbstzweck ist dieses langatmige Geplapper des Erzählers trotzdem nicht, schildert es doch fast wie ein Seismograph die sozialen Erschütterungen der französischen Gesellschaft: Adam schildert die Schicksale des Proletariats, von Krankenschwestern und Supermarktkassierern, die in der Tristesse der Banlieues gefangen geblieben sind, sich abrackern, ums Überleben kämpfen. Im Hintergrund schwelt die Dauerkrise des Kapitalismus, die Prekarisierung und Perspektivlosigkeit, der Aufstieg des neofaschistischen Front National – ein Panorama der taumelnden ArbeiterInnenklasse in Frankreich.

 

Insofern bleibt sich der 1974 in einer Pariser Banlieue geborene Adam treu: In seinem Buch „Nichts was uns schützt“ ging es zuletzt etwa um das MärtyrerInnentum einer verzweifelten Supermarktkassiererin, die sich für illegale ImmigrantInnen engagiert und dadurch in einen Konflikt mit der Polizei gerät. Im Gegensatz zu AutorInnen, die in der deutschsprachigen Literatur auf einen sozialrealistischen Stil setzen – man denke  da etwa an Clemens Meyer oder Thomas Melle – hat das Geschriebene zudem nicht den Beigeschmack von Creative-Writing-Schulen.

 

Im Roman wird Paul Steiner von einem alten Freund vorgeworfen, dass er „den Sozialschriftsteller raushängen lässt, der die Realität dieser Welt kennt.“ Dieses Etikett, es kommt im Roman von beiden Seiten. Umso wuchtiger ist das, was dieser Autor, der die sozialen Epizentren kennt, da erzählt. Sozialautor? Nein, Adam zeigt mit „An den Rändern der Welt“, dass er zu den unverkennbaren Größen der Gegenwartsliteratur gehört.

 

:Benjamin Trilling

Olivier Adam:

„An den Rändern der Welt“
 
Klett-Cotta Verlag
 
422 Seiten, 24,95 Euro

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