Wir schreiben das Jahr 2024, blicken zurück auf das vergangene Jahrzehnt und müssen feststellen: Der Separatismus, der mit dem schottischen Referendum seinen Siegeszug durch Europa antrat, war ein voller Erfolg. Der Kontinent hat sich in einen Flickenteppich harmloser Zwergstaaten balkanisiert, die nun in einträchtiger Zwietracht, aber immerhin friedlich koexistieren. Ihre Zerstrittenheit ist Garant dafür, dass von europäischem Boden nie wieder ein Imperialismus ausgehen und sich die Mehrheit der Weltbevölkerung endlich mal ohne westliche Einmischung entfalten kann. Aber die BefürworterInnen der Kleinstaaterei mussten gegen enorme Widerstände ankämpfen, bis sich ihr Erfolgsmodell durchsetzte.

Was wurde nicht geunkt, als sich die Schotten im September 2014 aus dem Vereinigten Königreich verabschiedeten. Nachdem sich Rumpfbritannien und Nordirland dann entlang ihrer Fußballverbandsgrenzen geteilt hatten, brach der Damm endgültig. Das ebenfalls von düsteren Voraussagen begleitete „britische“ EU-Austritts-Referendum fand letztendlich nur noch im Londoner Bankenviertel statt, mit erwartbarem Votum. Im Rest Englands – und, welch Ironie, auch in Wales, Schottland und Nordirland – war der Zerfallsprozess unaufhaltsam fortgeschritten. Die Karte erinnerte bald ans Frühmittelalter, so viele angelsächsische und keltische Kleinkönigreiche feierten ihr Revival. Manche verließen die EU, andere blieben der Subventionen wegen drinnen. Die EU zerstritt sich noch mehr, aber das war letztlich von Vorteil, denn so konnten die mächtigeren Staaten anderen nicht mehr à la Troika ins Handwerk pfuschen oder gar außerhalb Europas Demokratie herbeibomben.

Stacheldraht im Hausflur

Apropos mächtigere Staaten: Frankreich zerfiel infolge seiner Regierungskrise in einen merkeltreuen Marionettenstaat namens Burgund 2.0 – Kritiker sprachen von Vichy 2.0 – und weitere kleinere Regionalstaaten. In den Nachbarländern machten sich Katalanen, Basken, Flamen und Wallonen – also all die, die schon vom Separatismus träumten, bevor es zum Trend wurde – daran, ihre eigenen Süppchen zu kochen. Weitere folgten: Neo-Stadtstaaten in Norditalien, getrennt von einem Kirchenstaat im Süden, in dem Millionen Flüchtlinge unter päpstlichen Fittichen lebten, und in Deutschland ein Comeback vornapoleonischer Kleinstaaterei. Es war schier atemberaubend, wie viel spaltbares Menschenmaterial in Europa und darüber hinaus darauf wartete, sich nach dem Schema „Stadt-Land-Fluss“ neue Identitäten, Gemeinschaften und Staatswesen zu schaffen. Aber wie das so ist mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker – Danke, Woodrow Wilson! – fanden sich immer neue Minderheiten inmitten von Minderheiten, die durch ihre Unabhängigkeit gerade zu Mehrheiten geworden waren. Selbst die mit stolzem Regionalismus ausgerufene Volksrepublik Ruhrpott machte bald einem Gewirr von Emschergrafschaften, Lippefürstentümern und Ruhrbaronien Platz, welches das Förderturmdenken früherer Tage verblassen ließ. Was mit der Wiedereinführung alter Autokennzeichen wie WIT und WAT begann, endete damit, dass einzelne WGs im Hausflur Stacheldraht spannten und eigene Staaten ausriefen.

Erbärmlicher Lokalstolz

„Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein“, sagte schon Schopenhauer über den Nationalstolz, der mit den Nationalstaaten verblasste, dem Separatismus sei Dank. Andererseits ging es auch bei diesem darum, sich von „Anderen“ abzusetzen, mit denen man weder teilen noch zusammenleben wollte. Wie erbärmlich muss man also sein, um auf das hinterletzte Provinznest stolz zu sein, auf irgendeinen Acker, auf dem mal im Mittelalter eine Schlacht geschlagen wurde, oder eben auf Wattenscheid oder Herne-Wanne-Eickel, weil der Opa da mal ’ne Lore Dreck aus dem Berg geholt hat?

:Johannes Opfermann

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