Bild: Einkaufswagen als Arbeitsgerät: Auch unter PfandsammlerInnen gibt es unterschiedliche Grade der Professionalisierung., Erste wissenschaftliche Arbeit über PfandsammlerInnen erhellt eine Sozialfigur Illustration: mar

Seit einigen Jahren gehören sie zu einem Fußballspiel wie die Fangesänge, zu einem Festival wie das Bier, zum Gelände vor dem Eingang der Disko wie die Türsteher; man trifft sie in jeder deutschen Großstadt auf ihren Routen, in Bochum auch an der Uni und im Bermudadreieck: Die Rede ist von PfandsammlerInnen, denjenigen Menschen, die für acht Cent öffentliche Mülleimer durchwühlen. Der Soziologe Sebastian J. Moser hat sich dieser „urbanen Sozialfigur“ erstmals ausführlich wissenschaftlich angenommen. Das erstaunliche Ergebnis seines im März erschienen Buches „Pfandsammler“, das auf seiner Dissertation basiert: Geld ist nicht das einzige Motiv der SammlerInnen, nicht einmal das wichtigste.

Die Frage, die Sebastian J. Moser interessierte und die sich wohl auch manch eineR von uns gestellt haben dürfte, ist: Warum begeben sich trotz all dieser Umstände so viele Menschen in Deutschland tagtäglich auf die Suche nach Leergut, wo doch der Ertrag  mit 8, 15 oder 25 Eurocent pro Fundstück so gering ist? Wenn sie sich mit jedem Griff in die Mülltonne vor den Augen aller Anwesenden selbst als Außenseiter stigmatisieren? Wo das Wühlen im Müll überhaupt eine eher unappetitliche Angelegenheit ist? Wo das deutsche Sozialsystem relativ gut ausgebaut ist?

Zunächst ging auch der Forscher, der in Bielefeld Soziologie, Sozialanthropologie und Wirtschaftswissenschaften studierte, von einer monetären Motivation aus. Doch bei Verdienstspannen von 1,50 Euro pro Tag bis 250 Euro im Monat kann kaum von einer Überlebensstrategie die Rede sein, zumal letztgenannte Zahl angezweifelt werden darf, höchstens während der Fußball-WM im Lande 2006 vorstellbar ist (die ohnehin einen Flaschensammler-Boom auslöste). Außerdem sind die wenigsten PfandsammlerInnen, obwohl oft genug der Beleidigung „Penner“ ausgesetzt, tatsächlich obdachlos. Die meisten von ihnen beziehen Sozialleistungen, die zum Überleben ausreichen, manche von ihnen sind auch angestellt. Es muss also etwas anderes geben, was sie antreibt.

Nur der arbeitende Mensch zählt

Moser identifiziert dieses Etwas, vereinfacht gesagt, als Einsamkeit. Das Sammeln bietet die Möglichkeit, unter Menschen zu kommen. SammlerInnen werden zu SmalltalkerInnen, selbst wenn sich die Konversation auf ein einseitiges „Darf ich das mitnehmen?“ beschränkt. Es ist der Versuch, wieder zu nützlichen, „echten“ Mitgliedern der Gesellschaft zu werden, und das geht anscheinend nur durch Arbeit. Und es ist, wenn auch nicht geachtet, so in ihren Augen doch nützliche Arbeit, wenn sie die Städte, Stadionvorplätze sauberer und sicherer machen. Zudem bleiben sie bei dieser Arbeit niemandem Rechenschaft schuldig, sie sind ihr eigener Chef beziehungsweise ihre eigene Chefin. Diese Beschäftigung hilft, den Tag zu strukturieren, ein Übermaß an Freizeit rumzukriegen – und ganz nebenbei ein „Zubrot“ zu verdienen. Von diesem Taschengeld gönnen sich die meisten einen kleinen oder großen Luxus, von der Bratwurst bis zur Argentinienreise.

Natürlich lässt sich die gesamte Argumentation des Buches hier nicht zusammenfassen. Es wäre auch schade drum, denn das Buch ist in seinem Aufbau mit zahlreichen wissenswerten Exkursen äußerst lesenswert – und vor allem auch lesbar. Der Autor bemüht sich um eine verständliche Ausdrucksweise, besonders die Stellen, die direkt von seiner Arbeit als (teilnehmender) Beobachter handeln, die Gespräche mit den PfandsammlerInnen sind nahezu reportagenhaft geschrieben. Lediglich die durchaus interessanten Grundsatzausführungen darüber, was „Sammeln“ und „Geben“ überhaupt ist, sind arg theoretisch geraten. Mosers Vorgehensweise aber ist beispielhaft: Er war sich nicht zu schade, Tag und Nacht auf die Straße zu gehen, zu beobachten und sich zu unterhalten, ja sogar selbst Abfalltonnen zu durchwühlen. Subtil und gekonnt kritisiert er die Wissenschaft, die aus ihrem Elfenbeinturm nicht herauskommt (nicht umsonst hat er 2012 das Labo Co-Errance mitgegründet, das sich mit alternativer Forschung und Lehre beschäftigt).

Ein vielseitiges Referenzwerk

Es ist erstaunlich, wie viele Facetten des Themas hier untersucht werden: Da werden Begriffe wie Sammeln in ihre Grundbestandteile zerlegt und nach ihren Wurzeln gegraben, es gibt „Eine kleine Pfandgeschichte“, da werden die drei Schritte sammeln, zwischenlagern und wegbringen untersucht, Feindseligkeiten analysiert, die städtische Imagepolitik der sauberen Innenstädte unter die Lupe genommen, Vegleiche mit historischen „Berufen“ wie den LumpensammlerInnen angestellt und noch viel mehr. Beim Lesen dieses Buches lernt man eine ganze Menge, über PfandsammlerInnen, PfandgeberInnen, Geschichte und Gesetze und dass nach der Kritischen Theorie in unserer Gesellschaft „mit den Verhältnissen irgendwas nicht stimmt“.

Sebastian J. Moser:
„Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur“

Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur - Hamburger Edition
Hamburger Edition
270 Seiten, 22 Euro

2 comments

  1. Flaschensammeln als Einsamkeitssymptom?!?
    Mann Marek, ich glaube, es hackt bei Herrn Moser oder bei Dir ein wenig! Flaschensammeln als Einsamkeitssymptom?!? Hat auch nix mit H4 zu tun? Eieiei. Klingt alles ganz schön verharmlosend. Leih mir bitte mal das Buch! Gut, dass Dein Artikel das Problem der Armutsverdrängung durch das Konzept der sauberen Innenstadt anreißt. Dazu ein aktueller Link vom NDR:
    http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/media/hamj33817.html

  2. Kommentar zum Buch Pfandsammler
    Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Kernthesen des „Referenzwerks“ von ursprünglich „völlig klar“ auf „erst noch detailliert zu klärend nebulös“ gepimpt wurden, um auf einen Brutto-Umfang von 270 Buchseiten zu kommen. Damit liegt das Buch beileibe nicht alleine da, aber es ist auch nicht schön, Potemkinsche Dörfer herbeizufabulieren, wo doch meines Erachtens der einzige Grund auf der leeren Hand des Pfandsammlers liegt: Diese Menschenkinder bewegen sich ab 2005 innerhalb der Maslowschen Bedürfnispyramide at the bottom bei den „Physiologischen Bedürfnissen“.

    Bereits im Jahr 2 n. H. (nach Hartz IV), also 2007, bin ich auf dem Parkplatz eines Bochumer Supermarkts beim Auspacken meines Leerguts von einem freundlichen jungen Mann angesprochen wurde, der höflich nachfragte, ob ich mein Leergut erübrigen könne und er das Pfandgut für mich abgeben und den Erlös behalten dürfe? Wir kamen in ein längeres Gespräch, und ich erfuhr, daß die Bochumer Innenstadt in quasi Abgrasegebiete aufgeteilt worden war und jeden Morgen ab 5 Uhr von Flaschensammlern durchforstet wurde. Konkurrenz wurde vertrieben bzw. ergab sich nicht aufgrund vorheriger Absprachen. Also gings zumindes 2007 nur um eine handvoll Euro mehr zu Hartz IV. Vielleicht hat sich der Wind gedreht, und 2014 befinden sich Pfandsammler in einem permanenten inneren selbstreflektierenden Monolog über ihr absoluten Sein an sich im Memorieren der Hauptschriften von Schleiermacher, Schopenhauer, Heidegger, Wittgenstein und Picht, während sie sich innerlich frohlockend von einem stinkenden Abfallbehälter zum nächsten hangeln… oder so.

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