Schon beim Kauf der Reiseverpflegung kommt es zu ersten Missverständnissen. „Ich hätte gerne einmal den Ricola-Salat“, bestellt der Herr vor mir. „Gerne. Möchten Sie noch ein Katjes-Brötchen dazu?“, hätte die Kassiererin geantwortet, wäre sie schlagfertig gewesen. Stattdessen dümmliches Einvernehmen: „Sie meinen wohl Rucola. Das andere sind diese Bonbons. Ich verwechsele das auch immer.“ Herrje. Bochum hat wohl gar keine Kultur, oder was.
Aber blöd, das sind nicht immer nur die anderen. Ich zum Beispiel habe tatsächlich gehofft, in Berlin den Kopf frei zu bekommen. Das ist natürlich Quatsch: In Berlin bekommt man den Kopf höchstens voll. Die guten alten Distinktionsmuster, die anderswo helfen, sich gesellschaftlich zu verordnen, sind an der Spree passé. Während ich in Bochum aufpassen muss, nicht zu sehr zum urbanen Hipster zu mutieren, läuft es im so genannten „Kreuz-Kölln“ genau andersherum. „Irgendwie fühle ich mich ganz furchtbar provinziell“, sage ich zu Nora, meiner Schwester und Gastgeberin, als wir uns durch die fast durchweg wunderschönen Menschen am türkischen Markt quetschen. „Wie sehe ich eigentlich aus!“ „Naja, wahrscheinlich denken die Leute hier alle: Seltsam, der Typ sieht aus als würde er Rockmusik hören“, antwortet sie. Wie schrecklich! Ein ebenso vernichtendes wie beredtes Urteil, von dem ich mich den ganzen Abend über nicht mehr erhole. Meine Schwester lacht. Statt mich zu entspannen, blicke ich in die Gesichter der jungen Menschen um mich herum. Ständig dieses Gefühl: Den kennst du doch. Und hängt die nicht sonst im Ehrenfeld rum? Und dann ist es doch wieder nur jemand, der so ähnlich aussieht. Ein Freund von mir, ebenfalls ein zugezogener Berliner, kennt das Gefühl. „Meine Theorie ist ja, dass es auf der ganzen Welt nur 500 verschiedene Bausätze von Menschen und ebenso viele Stile gibt, die alle verschieden kombiniert in unzähligen Kopien durch die Gegend laufen. Kennste die, kennste alle“, sagt er. „Naja. Lass es 250 sein“, antworte ich. Wir einigen uns auf irgendwas in der Mitte.
Später, im Görlitzer Park in Kreuzberg, treffe ich dann doch noch jemanden, der tatsächlich der ist, für den ich ihn halte. „Hallo“, sage ich im sicheren Gefühl des Wiedererkennens freundlich und nicke ihm zu. Ein unüberlegter und peinlicher Fehltritt. Kaum ist das „Hallo“ heraus, fällt mir ein, dass ich die Person nicht wirklich, sondern nur aus dem Fernsehen kenne: Es ist Hans-Christian Ströbele auf seinem Fahrrad, und er ist offenbar im Wahlkampf. Oder er freut sich einfach, dass ihn jemand erkennt, auch möglich. Oder er wird senil und hält mich für einen Parteifreund. „Hallo!“, antwortet er jedenfalls, mit einem Ton, als ob wir schon zusammen in der Sauna gewesen wären. Ich trete schnell in die Pedale und haue ab, bevor er wieder anfängt, von seinen türkischen Freunden zu erzählen. Oder bevor ich mich rechtfertigen muss, warum ich ihn gegrüßt habe. „Aus Versehen“ ist nämlich keine gute Antwort in so einem Fall, auch wenn es stimmt. Den grünen Hausgeist in Kreuzberg treffen, das ist wirklich zu einfach.

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