Schon bei der Ankunft am gut gefüllten Westfalenstadion werden wir als Interessierte erkannt. Wir sind die einzigen Frauen, die keine Röcke tragen. Eine freundliche Dame, die uns von ihrer Missionstätigkeit mit ihrer „Schwester“ erzählt, besorgt uns die Buchneuerscheinung „fragen junger leute – praktische antworten.“ Sie erklärt uns, weshalb Frauen nur Röcke tragen: „In der Bibel steht es: Gott erwartet eine züchtige Kleidung.“ Auf dem Rasen stehen zwei große Schriftzüge: „Gottes Königreich komme“, für die BesucherInnen auf der Westtribüne in deutscher Sprache, Richtung Osttribüne auf Russisch. Nach dem gemeinsamen Singen beginnt die sonntägliche „theaterähnliche Aufführung – Drama: Junge Leute – seid weise und verständig.“ Bibelszenen und „moderne Szenarien“ werden vergleichend dargestellt. Das Fazit: Wer nach den Gesetzen Jehovas handelt, liegt immer richtig. Nach der Schlussszene beginnt der Vortrag „Wann wird Gottes Königreich alle anderen Königreiche zermalmen?“ Die Antwort: Bald. Gottes messianisches Königreich sei eine Regierung und künftig bis auf alle Zeiten die einzige. Indem man Gottes Königreich die erforderliche Unterstützung gebe, drücke man die Anerkennung Jehovas als einzigen Souverän aus. Das Königreich herrsche jetzt, die Bibel sei eindeutig – nur Tag und Stunde des Weltuntergangs sei nicht genannt. Nach der Predigt gibt der Redner noch bekannt, dass am Samstag 122 Taufen auf deutscher Seite und 113 auf russischer Seite durchgeführt wurden. Es gibt auch eine neue DVD: „Lasst das Licht leuchten.“
Glaubensinhalte
Die Wachturmgesellschaft der Zeugen Jehovas sieht sich als einzig wahre christliche Organisation an. Christoph Grotepass von der Sekten-Info-NRW: „Es handelt sich um eine abgeschlossene Gemeinde, die keinen Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften führt.“ Gegründet wurde die heute weltweit bestehende Organisation in den 1870er Jahren von dem Amerikaner Charles Taze Russel. In Deutschland begann die Verbreitung 1897 mit dem Erscheinen des Wachturms in deutscher Sprache. Heute gehören in Deutschland über 200.000 Menschen der Wachturmgesellschaft an. Zentraler Punkt der Lehre ist die Erwartung an die baldige Wiederkehr Christi und des Weltgerichts. Dann werde Gott das Paradies in seinem Königreich wieder herstellen und die Menschen in zwei Klassen geteilt: 144.000 werden mit Christus im Himmel herrschen. Die restlichen, die am jährlichen Gedächtnismahl teilnehmen und die Schlacht von Harmagedon überleben, haben die Hoffnung auf ein paradiesisches Leben auf Erden. Ohne diejenigen, die nicht an Jehova glauben, denn die werden bei der Schlacht vernichtet. Die Gefahr der Missionierung sei nicht so hoch, wie allgemein angenommen, sagt die Sekten-Info. In Relation zu den Mitgliedszahlen jedoch, seien die Anfragen an die Sekten-Beratungsstelle zu den Zeugen Jehovas nach Anfragen zu Scientology am zweithöchsten: „Es ist die Gemeinschaft mit den konflikträchtigsten Zügen“, so Grotepass. AussteigerInnen würden häufig ignoriert und sozial isoliert. SchülerInnen würden durch ihren Glauben zu AußenseiterInnen, da ihnen weltliche Musik und Filme verboten sind. So rät das Buch „fragen junger leute – praktische antworten“, sich FreundInnen mit gleichen Ansichten und Werten zu suchen, also FreundInnen, die auch Zeugen Jehovas sind.
Für Berlin sind sie eine Kirche
Am 1. Februar 2006 wurde die Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts vom Oberverwaltungsgericht Berlin rechtskräftig. Damit endete für die Wachturmgesellschaft ein seit 1990 andauernder Rechtsstreit. Über die Anerkennung als öffentliche Religionsgemeinschaft entscheiden die Bundesländer selbst. Zwölf Länder haben sich dem Berliner Urteil angeschlossen. Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Bremen und Nordrhein-Westfalen prüfen noch, Bremen hat die Anerkennung abgelehnt. Die Verweigerung von Bluttransfusionen sei eine Verletzung der Grundrechte, da Leib und Leben, vor allem von Kindern gefährdet seien. Eine weitere Rechtsverletzung sieht die Bremer Bürgerschaft in der Erziehung der Kinder. Die Persönlichkeitsentwicklung sei durch Züchtigungen und rigide Erziehungsmaßnahmen gefährdet. Ähnlich argumentierte das Land Berlin. Doch das Bundesverwaltungsgericht sah, etwa im Falle der Bluttransfusionen, die Möglichkeit rechtsstaatlicher Einflussnahme im Einzelfall. Die Zeugen Jehovas gaben vor Gericht zu, dass sie die Mitglieder ihrer Gemeinde dazu anhalte, Bluttransfusionen zu verweigern, dass sie sich aber einer gerichtlichen Anordnung fügen würden. Die Gefährdung des Kindeswohls oder die Ausgrenzung ausgetretener Familienmitglieder sei nicht belegt. „Psychischer Druck lässt sich schwer beweisen“, so Grotepass von der Sekten-Info. „In NRW sind die Dinge noch offen, es wurden und werden noch Informationen über die Zeugen Jehovas gesammelt“, so Grotepass weiter. „Generell sind die Voraussetzung zur Erlangung der Anerkennung relativ einfach.“ So muss eine Religionsgemeinschaft eine hinreichende rechtliche Organisationsstruktur, eine ausreichende Finanzausstattung und einen gewissen zeitlichen Bestand von circa 30 Jahren belegen. Das alles erfüllen die Zeugen Jehovas. Eine Nicht-Verleihung ist schwierig, so lange der Staat grundsätzlich an den für Religionsgemeinschaften lukrativen Kirchenprivilegien festhalten will. Mit dem Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts sind verschiedene rechtliche und steuerliche Vorteile verbunden. Eine Frage war und ist allerdings, ob sich die Zeugen an rechtsstaatliche Prinzipien halten. Allerdings, das ist auch ein wichtiger Grundsatz der Religionsfreiheit, ist eine anerkannte religiöse Körperschaft nicht rechtlich dazu verpflichtet ihr Handeln an den Interessen des Staates auszurichten, was den Zeugen Jehovas offensichtlich fern liegt: Es gibt schließlich nur einen Souverän, nur eine Regierung: Das Königreich Gottes und seines Sohnes Jehova.
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