Bild:

Der aus Degerloch bei Stuttgart stammende Lehrer ermordete im September 1913 seine Frau, seine vier Kinder, sowie neun weitere Menschen und verletzte außerdem elf Personen schwer. Diverse Ärzte und Wissenschaftler wurden auf den Fall aufmerksam, insbesondere der damalige Leiter der Universitätsnervenklinik in Tübingen, Robert Gaupp. Der Psychiater sorgte zunächst als Gutachter dafür, dass Wagner nicht hingerichtet wurde und entwickelte anschließend an dem Fall seine Lehre von der „echten Paranoia“. Gleichzeitig war Gaupp ein Verfechter von Eugenik, Rassenhygiene und Zwangssterilisation und unterstützte bereits im Jahr 1920 die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In dem jetzt neu erschienen Buch zeigt der Bochumer Literatur- und Sozialwissenschaftler Rolf van Raden in einem ersten Schritt, wie die Rede über den Mordfall für solche politischen Ziele dienstbar gemacht wurde.

Vom Mord zur Rassenhygiene

Anhand von Zeitungsartikeln, psychiatrischen Gutachten und weiteren Veröffentlichungen macht die Untersuchung deutlich: Die Ärzte erklärten sich für den gefährlichen Verbrecher zuständig, indem sie ihn für psychisch krank erklärten. Dabei blieb es jedoch nicht. Indem die Ärzte deutlich m

achten, dass nur sie die Gesellschaft vor gefährlichen Wahnsinnigen schützen könnten, entwickelten sie den Anspruch, nicht den Einzelenen, sondern vielmehr das Gesellschaftskollektiv zu heilen. Dabei verschmolzen die Vorstellungen von Krankheit und Verbrechen. So diente der Mordfall letztendlich zur Legitimation von biopolitischen Praktiken, durch die Behinderte und geistig oder körperlich Kranke zunächst ausgegrenzt und eingesperrt, später soger als „lebensunwert“ denunziert und systematisch vernichtet wurden.

Das Buch „Patient Massenmörder“ zeigt damit, wie ein Gewaltverbrechen diskurspolitisch genutzt wurde und welche Folgen das hatte. Dabei werden nicht nur die Inkohärenzen in der medialen Berichterstattung über den Fall aufgedeckt, sondern es wird auch Stück für Stück nachgezeichnet, wie Mediziner, Juristen, Politiker und JournalistInnen die Wagner-Diskurse prägten und sie als diskursive Waffe im Kampf um mehr Einfluss nutzten. Dabei bezieht sich der Autor vor allem auf Gesprochenes und Geschriebenes als Zeugnis der interessegeleiteten Konstruktionen um den Mordfall. So wird deutlich, welche nachhaltigen politischen Folgen mit den Diskussionen über eine spektakuläre Gewalttat einhergehen können.

Damals Psychiatrie, heute Hirnforschung

In einem zweiten Schritt zeigt der Autor, dass die argumentative Nutzung des Mordfalls keineswegs nur eine Sache der Vergangenheit ist. Indem er die historischen Diskurse freilegt, fällt ein neues Licht auf aktuelle Forschungen. Neurowissenschaftler und Hirnforscher versuchen seit den 1990er Jahren mit Untersuchungen von Ernst Wagners Gehirn zu zeigen, dass es eine biologische Ursache für Verbrechen gebe, die in der Hirnstruktur des Täters liege. Die von Ernst August Wagner begangenen Morde sind so auch im 21. Jahrhundert Ausgangspunkt von Debatten über Schuld und biologische Anormalität von Straftätern. Die historische Perspektive ist dabei nicht ohne Brisanz für die aktuellen Diskussionen, zum Beispiel über den Umgang mit AmokläuferInnen. In solchen Debatten wird schließlich bis heute gesellschaftlich festgelegt, was als normal und gesund oder unnormal und krank zu gelten hat.

Patient Massenmörder. Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse,
Rolf van Raden
Unrast-Verlag 2009, 24 Euro

Patient Massenmörder. Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse, Rolf van Raden, Unrast-Verlag, 2009, 24 Euro

0 comments

You must be logged in to post a comment.