Aus Respekt vor den Opfern des Holocaust werde man die Verbreitung der Nachdrucke des „Völkischen Beobachters“ und anderer Nazi-Zeitungen verhindern, teilte die Bayrische Landesregierung mit. Sie hält die Urheberrechte an den meisten Nazi-Druckerzeugnissen. Gegen die HerausgeberInnen werde wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen ermittelt. Dass der vollständige Nachdruck von Nazi-Propaganda vor allem Liebhabermaterial für die rechtsextreme Szene produzieren könnte, ist ein ernstzunehmender Einwand gegen das Projekt des britischen Herausgebers Peter McGee und seiner wissenschaftlichen BeraterInnen. Welchen anderen Mehrwert zum Beispiel das im A2-Format beiliegende NSDAP-Wahlplakat gegenüber verkleinerten und kommentierten Abbildungen bieten sollte, erschließt sich jedenfalls nicht.

Die UnterstützerInnen des „Zeitungszeugen“-Projekts argumentieren dagegen, dass die bayrische Landesregierung mit ihrer restriktiven Verwaltung der Nazi-Urheberrechte die historische Aufarbeitung behindere. So konnte bis heute keine kommentierte Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ erscheinen, die das miserabel geschriebene Machwerk entmystifizieren könnte. Das sind gewichtige Argumente, aber: Auf das Zeitungszeugen-Projekt treffen sie nicht zu. Die ersten beiden Ausgaben zeigen nämlich, dass die HerausgeberInnen nicht auf Aufklärung und einen historisch-kritischen Apparat setzen, sondern auf das trügerische und ahistorische Versprechen von Authentizität. In der ersten Nummer lassen sie Fernsehmoderatorinnen, Politiker und Sportler erklären: Deutsche Geschichte werde durch den Nachdruck der NS-Zeitungen „greifbar“, „erlebbar“, „hautnah nachvollziehbar“. Nicht nur den Opfern des Holocaust dürfte das als unglaubliche Verniedlichung des Nationalsozialismus vorkommen. Der abgedruckte Kommentar des Schauspielers und Sängers Björn Casapietra ist angesichts der Verheerungen der Shoa und des Weltkriegs kaum an Zynismus zu überbieten: „Geschichte ist wie Musik: Man muss sie erleben können, um sie zu begreifen.“ Tennis-Champion Michael Stich will sogar, dass die Zeitungszeugen die „Geschichte des Landes […] lebendig […] halten“. Der Dritte-Reich-Vergnügungspark ist mental schon in Planung.

Opa war nur Zeitungsleser

Der fragwürdige Anspruch nach Erlebbarkeit zieht sich auch durch die Texte der HerausgeberInnen. „Ab sofort verfügen Sie über die einmalige Gelegenheit nachzulesen, welche Informationen Ihren Eltern und Großeltern zur Verfügung standen“, schreibt Chefredakteurin Sandra Paweronschitz. Dass unsere Eltern und Großeltern mehr gewusst haben könnten, als in den Zeitungen steht, weil sie unter Umständen selbst Täter waren, diese Möglichkeit wird scheinbar von vorne herein ausgeschlossen. Die Perspektive der Zeitungszeugen ist damit ein geschichtspolitischer rollback in die Zeit vor die Wehrmachtsaustellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Der Nationalsozialismus wird dem „normalen“ Leben gleichsam gegenüber gestellt und nicht als deutsche Alltags- und Massenkultur aufgearbeitet. Mit einher geht die Konstruktion eines Bildes der politischen Landschaft, die einem banalen Rechts-Mitte-Links-Schema folgt – wobei auch schon mal deutschnationale Blätter wie die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ als nüchtern-sachliches politisches Zentrum apostrophiert werden.

Kapitulation vor der Geschichte

In der zweiten Ausgabe scheinen die HerausgeberInnen vor der Aufgabe, einen einigermaßen ernstzunehmenden historisch-kritischen Apparat mitzuliefern, gleich zu kaptulieren: Gerade einmal vier Mantelseiten stehen den 28 Seiten der historischen Zeitungen und dem NSDAP-Hochglanzplakat gegenüber. Das Format des „Völkischen Beobachters“ ist dabei doppelt so groß wie das des kommentierenden Mantels. So erweisen die „Zeitungszeugen“ einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Presse des Nationalsozialismus wahrlich einen Bärendienst.                  Â
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