Ich sehe was, was du nicht siehst…
…und das ist blind
Wenn man zum ersten Mal auf den Begriff des blinden Flecks stößt, denkt man zunächst vielleicht an diese unansehnlichen Flecken, die sich auf alten Spiegeln an den Ecken bilden und von dort immer weiter in das Zentrum des Spiegels wandern, bis irgendwann der gesamte Spiegel „blind“ ist.
Andere werden mit dem blinden Fleck möglicherweise eher die Fettflecken auf den Tüten aus den modernen Backwarenläden assoziieren, wobei auch diese blinden Flecken derart sind, dass sie die unangenehme Charakteristik eignen, sich auszubreiten, bis man das Gefühl hat, durch die Backwarentüte hindurch die fettigen Backwaren erblicken zu können. Oder ist der blinde Fleck vielleicht der Punkt am Rücken, an den man partout nicht heran kommt, wenn es da juckt?
Alles Kinderkram im Vergleich zu dem einzig wahren blinden Fleck, der die gesamte sogenannte zweiwertige Logik aus den Angeln heben soll: Und so funktioniert ein ganz anderer blinder Fleck, den jeder von uns hat: Der Punkt, an dem unser Sehnerv aus dem Auge austritt, oder andersherum: das Licht auf diesen Nerv auftrifft. Dieser blinde Fleck ist für jeden erfahrbar, indem er ein kleines Experiment durchführt.
Futter für Versuchskaninchen
Bei diesem Experiment soll der Betrachter sein linkes Auge zuhalten und mit dem rechten auf das Kreuz schauen, das unten abgedruckt ist. Danach ist die gesamte bsz langsam hin und her zu bewegen. Der Betrachter wird erstaunt (oder vielleicht auch: nicht erstaunt, weil er das Experiment schon kennt) feststellen können, dass der Punkt neben dem Kreuz zu verschwinden scheint. An dieser Stelle unseres Gesichtsfeldes sehen wir also: Nichts. Aber, wie gesagt, unser hervorragendes Realitätskonstruktionsorgan (Gehirn) „extrapoliert“ dieses Nichtsehen. Diese Stelle wird der blinde Fleck genannt. Nach dem Experiment kann man also wissen, dass man nicht sieht, was man nicht sieht.
Die Beobachtung des Blinden Flecks wurde einst vom Kybernetiker Heinz von Foerster generalisiert, und er behauptete: Jede Beobachtung (also auch: jede Aussage) verwendet diesen blinden Fleck, kann also nicht mitsehen, was sie nicht sieht und muss deshalb eine zweite Operation starten, die dann sehen kann, was sie in der vorherigen Beobachtung nicht sah, kann dann aber wiederum nicht sehen, was sie nicht sieht.
Handelt es sich, so fragt Niklas Luhmann in seinem Beitrag zu dem Sammelband „Das Auge des Betrachters“, einer Festschrift anlässlich des 80. Geburtstags Heinz von Foersters, bei der Entdeckung dieses blinden Flecks um eine Trivialität, die sich empirisch bestätigen lässt, oder um eine längst bekannte empirische Tatsache, die man trivialisieren muss, um damit die klassische Epistemologie aus den Angeln zu heben?
Wer diese Frage zu beantworten wünscht, oder auch gerne solche Fragen zu stellen in der Lage wäre, der kann sich mit „Das Auge des Betrachters“ näher beschäftigen, in dem Wissenschaftler aus verschiedenen Forschungsrichtungen (Soziologie, Psychologie, Biologie usf.) aber auch Leute aus ganz anderen Richtungen wie beispielsweise Dokumentarfilmer auf die Wirkungen eingehen, die Heinz von Foersters Arbeit auf ihr Fach bzw. ihr Schaffen genommen hat. Besonders für Studenten aus Bochum sei angemerkt, dass sich das Büchlein nicht im Bestand der Universitätsbibliothek befindet (und auch noch nie befand).
Benz
„Das Auge des Betrachters“
ist bereits erschienen:
Carl-Auer-Systeme Verlag
(März 2002)
ISBN: 978-3896702388
Preis: 22 Euro
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