Vor dem „Zug der Erinnerung“ gab es bereits in Frankreich ein ähnliches Projekt. Dort zeigte der Verein „Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs“ um Beate und Serge Klarsfeld seine Ausstellung „11.000 Kinder“ an ingesamt 18 französischen Bahnhöfen. Die französische Eisenbahngesellschaft SNCF unterstützte die Ausstellung, ihr Vorsitzender eröffnete sie. Ganz anders in Deutschland: Die Deutsche Bahn lehnte jegliche Unterstützung ab und wollte verhindern, dass die Ausstellung an deutschen Bahnhöfen zu sehen ist. Daraufhin formierte sich Protest, der Verein „Zug der Erinnerung“ wurde gegründet und suchte nach einem Alternativplan.

Relativ schnell war klar: Die DB kann zwar Raum in ihren Bahnhöfen verweigern, aber nicht, dass ein privat finanzierter Zug an ihren Bahnhöfen halt macht. So wurde die Idee einer Ausstellung in Bahnwaggons geboren. Mit der Unterstützung verschiedener Bahnverkehrsunternehmen forderte die Initiative Streckenpläne an, buchte die Schienennutzung sowie Standzeiten in Bahnhöfen.

Zuspruch und Boykott

Los ging es in Frankfurt. Nach zufriedenstellenden BesucherInnenzahlen war der Weg frei für eine Fahrt durch Deutschland. Weil sich Anfragen aus ganz Deutschland häuften, wurde das geplante Ankunftsdatum in der polnischen Stadt Oswiecim, in der Nazis das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz errichteten, vom 27. Januar (Tag der Befreiung des Lagers) auf den 8. Mai (Jahrestag der deutschen Kapitulation) verlegt. Neben Hessen, Baden-Württemberg und Thüringen wurden zum Jahresbeginn NRW, Hamburg und Schleswig-Holstein angefahren. Im Anschluss daran machte sich der Zug auf die Reise nach Berlin, wo er ganze zehn Tage an verschiedenen Bahnhöfen halten sollte.

Ein Großteil des öffentlichen Interesses konzentrierte sich allerdings auf den Konflikt zwischen dem Verein und der DB. Diese verlangte von den VeranstalterInnen, dass sie die vollen Kosten für die Streckennutzung bezahlen – obwohl es sich um ein unkommerzielles Projekt handelte und die Bahn schon einmal an der Deportation verdient hatte. Zynischer Weise waren die Opfer nämlich gezwungen gewesen, ihren eigenen Abtransport in die Lager zu bezahlen. Außerdem stellte die Bahn AG klar, dass der Zug mit der ihn ziehenden Dampflok weder Ein- noch Durchfahrt in den neuen Berliner Hauptbahnhof erhalten würde – angeblich aus technischen Gründen. Rechtlich befand sich die Bahn auf der sicheren Seite, moralisch jedoch wurde der Druck hoch. PolitikerInnen, Personen des öffentlichen Lebens und nicht zuletzt zahlreiche Besucher-Innen der Ausstellung ließen ihrem Unmut freien Lauf. Auch wenn sich manchmal in der Kritik am Verhalten der DB das Ressentiment des „Kleinen Mannes“ entlud: Selbst der ernst gemeinte Protest konnte nicht verhindern, dass sowohl die Gebührenforderungen als auch das Fahrverbot für den Berliner Hauptbahnhof aufrecht erhalten wurde.

Statt am Hauptbahnhof hielt der Zug am Berliner Ostbahnhof. Trotz des weniger repräsentativen Ortes kam es auch in Berlin zu Wartezeiten von bis zu vier Stunden. Viele BerlinerInnen folgten dem Aufruf, zum Gedenken an die Ermordeten Blumen am Zug zu befestigen. So wurde der Halt in Berlin zu einer eindrucksvollen Gedenkveranstaltung.

Etappe um Etappe

Die weiteren Etappen in Brandenburg und Sachsen machten deutlich, wie stark in manchen Städten ein gesellschaftliches Klima entstanden ist, das ein Projekt wie den „Zug der Erinnerung“ nur unter Polizeischutz und der Anwesenheit örtlicher Antifa-Gruppen ermöglicht. Von wirklich bedrohlichen Angriffen durch Neonazis blieb die Ausstellung zwar verschont – bei der pädagogischen Arbeit mit Schulklassen vor Ort war jedoch deutlich festzustellen, wie stark die extrem rechte Jugendkultur mittlerweile verankert ist.

Auch die Fahrt nach Oswiecim und der Aufenthalt in Auschwitz zeigte, dass die Arbeit einer solchen Initiative in Deutschland im Jahr 2008 noch etwas Außergewöhnliches darstellt. MedienvertreterInnen aus allen Teilen der Welt waren zugegen; eine junge Frau in Sgorzelec war überrascht von dem Projekt: Es sei das erste Mal, dass sie von Deutschen ein Geständnis der Schuld ihrer Eltern und Großeltern höre.

Während des Aufenthaltes ergaben sich gerade für die mitgereisten Jugendlichen bewegende und erschütternde Momente. Im Vorfeld hatten sie das Schicksal der Kinder und Jugendlichen aus ihrem Stadtteil, die von deutschen SS-Männern ermordet wurden, ausführlich erforscht. Jetzt wurden die oft monatelangen Recherchen vor Ort konkret, als sie die ehemaligen Vernichtungsstätten besichtigten.

Und nun?

Lässt sich nun nach der erfolgreichen Fahrt des „Zug der Erinnerung“ eine generelle Veränderung im deutschen Umgang mit dem Nationalsozialismus feststellen? Können die vielen tausend Einträge im Gästebuch als Beleg dafür genommen werden, dass die Deutschen sich nun bewusst werden, dass beinahe eine ganze Generation aktiv oder passiv die Verbrechen des Holocaust möglich gemacht hat? Eindeutig lässt sich diese Frage nicht beantworten. Die Ausstellung machte ein sehr niedrigschwelliges Angebot. Die Schicksale ermordeter Kinder und Jugendlicher lassen wenige Menschen kalt. Bei anderen Themen war allerdings kein so starker Grundkonsens mehr vorhanden. Diverse Varianten von „Unglaublich schlimm diese Verbrechen, aber…“ Gesprächen bis zum hinlänglich bekannten „Man konnte ja nichts wissen“ ließen sich auch mit eindeutigen Beweisen der Geschichtswissenschaft nicht widerlegen.

Die Arbeit mit den Jugendlichen zeigte jedoch: In dieser Generation kommt es zu einer Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, die nicht mehr davon geprägt ist, dass die Täter in der eigenen Familie leben. Dies führte in vielen Fällen zu einer angenehm objektiven und deutlichen Beurteilung der Rolle der deutschen Bevölkerung während der NS-Zeit.

Alles in Allem hat die Fahrt des „Zugs der Erinnerung“ gezeigt, dass die Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland weder Normalität geworden ist, noch ohne starken Gegenwind stattfinden kann. Zahlreiche Kommentare in diversen Internetforen sprechen eine andere Sprache als die BesucherInnen. Ungeachtet all dessen hat die DB AG die Proteste ausgesessen und im Endeffekt die Gebühren in Höhe von über 100.000 Euro eingestrichen – und damit im Jahr 2008 noch einmal indirekt an den Bahn-Deportationen verdient.

tm

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