„Leider total verbaut“
Das Stadtbild Bochums kann auf den ersten Blick leicht irritieren und löst nur bei den wenigsten BesucherInnen spontane Begeisterung aus. Neben hochmodernen Bauten findet man noch allzu oft leere Bauplätze, ungenutzte Ruinen oder übergroße Schilder, die in naher Zukunft (die jedoch regelmäßig um einige Monate korrigiert wird) ein architektonisches Meisterwerk versprechen. Auch liebevoll renovierte Altbauten sehen sich mit einsturzgefährdeten Baumonstern konfrontiert. Es ist schwierig, in Bochum klassische Postkartenmotive zu finden, die nicht mit kleinen Schönheitsfehlern, großen Makeln oder mittelschweren Beleidigungen für das Auge versetzt wären. Bochum ist nicht perfekt. Es hat Fehler und eine bauliche Vielfalt, die jeden Städteplaner und jede Städteplanerin in den Wahnsinn treiben könnte (ob dies tatsächlich bereits so vorgefallen ist, konnte uns die Stadt jedoch nicht mit Sicherheit sagen). „Bochum ist nicht so schön wie München“, fasst es der Deutschland-erfahrene französische Austauschstudent Paul Coignec treffend zusammen und setzt fort: „Die Menschen hier sind aber sehr nett und aufgeschlossen.“ Vielleicht sind es also gerade diese ungewöhnlichen Bochumerinnen und Bochumer mit ihrem teils seltsamen Blick für Ästhetik, welche die Stadt zu etwas Besonderem machen. Schon Herbert Grönemeyer bescheinig-te Bochum, eine „ehrliche Haut“ zu sein. Das Stadtbild scheint ihn zu bestätigen. Während andere Städte ihren BesucherInnen eine perfekte Welt vorgaukeln, ist in Bochum überall spürbar, dass es sich um eine Stadt der Gegensätze handelt. Als „Bildungsstandort“ bezeichnet sich die Stadt heute gern, beherbergt man schließlich auch die größte Campus-Uni der Republik. Zu großen Ehren gelangte man zunächst jedoch als „Industriemetropole“ und schaffte im Zuge des Strukturwandels die Metamorphose zur „Kulturhauptstadt“. Gleichzeitig ist die Stadt jedoch hoch verschuldet und kämpft mit einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquote. Kulturhauptstadt und sozialer Brennpunkt zugleich? Ein schwieriger Spagat, der sich zuletzt auch immer wieder bei den Streitigkeiten um den Bau einer Symphonie am Marienplatz zeigte. Während soziale Projekte aus finanziellen Gründen nicht durchgeführt werden, stellt die Stadt schlappe 15 Millionen Euro für das Prestigeprojekt „Bochumer Symphonie“ bereit.
Identität und Perfektion
Ein zentraler Aspekt Bochumer Identität ist also sicherlich diese seltsame Widersprüchlichkeit, die man allerorts anzutreffen scheint. Auch Alexander Fall, aufgewachsen im benachbarten Sauerland, spürt diese interessanten Gegensätze in seiner Wahlheimat Bochum. „Auf den ersten Blick wirkt die Stadt kühl und grau. Doch wenn man erstmal beginnt, die Menschen hier kennenzulernen, dann ist dieser Eindruck schnell verflogen. Die Bochumerinnen und Bochumer sind offen und unglaublich direkt.“ Eigenschaften, die er im Sauerland stets vermisste: „Im Sauerland steht man Fremden zunächst sehr skeptisch gegenüber und erst, wenn sie sich den Gepflogenheiten hier angepasst haben, gehören sie dazu. Im Ruhrgebiet ist das schon ganz was anderes. Das ist toll!“
Bochum – Ein glücklicher Zufall?
Auf die Frage, weshalb es sie nach Bochum verschlagen hat, reagierte jedoch keine/r der Befragten mit einer Erwähnung der berühmten Bochumer Offenheit. „Ich wollte mein Studium noch mit dem Diplom abschließen. Die Fakultät für Sozialwissenschaft eröffnete diese Möglichkeit noch lange“, berichtet der gebürtige Bayer Wolfgang Rettich. Die Austauschstudentin Catherine Grillot landete auch eher zufällig mithilfe des Erasmus-Programms in Bochum; bewusst entschieden habe sie sich eigentlich nie für Bochum. Antworten dieser Art häuften sich bei der Recherche. Eilt uns denn kein besonderer Ruf voraus? Reden wir uns das Leben im Ruhrgebiet gar selbst nur schön, um die triste Einöde besser zu verkraften? Möglich, aber unwahrscheinlich. Versicherten mir doch alle Neu-Bochumerinnen und -Bochumer, ihre Entscheidung, hier zu studieren, nie bereut zu haben. Zwar hatte Wolfgang Rettich an der Ruhr-Uni zunächst den leicht befremdlichen Eindruck, „als ob ein riesiges Raumschiff mitten auf der grünen Wiese gelandet“ sei – inzwischen fühle er sich jedoch wohl und es fehle ihm hier an nichts. „Und wenn mir was fehlt, gehe ich zur Bude um die Ecke, die haben alles. Auch so eine Eigenart des Ruhrgebiets.“
Bochum lässt sich also wohl weder akkurat beschreiben, noch besingen oder gar fotografieren. Also: Rein in die Stadt, saugt ein wenig Ruhrgebietscharme (und bitte nicht zu viel Feinstaub) in Euch ein, und die nächsten Schmährufe von Freundinnen und Freunden aus Hamburg, Münster oder Tübingen wirken gleich viel weniger verletzend. Einen Versuch ist es jedenfalls wert…
jk
0 comments