Solidarität – das aussterbende Phänomen in anonymer Gesellschaft?

Ob nun die Betreiber von Beratungsforen im Internet, Freiwilligenvereine, wo jüngere Menschen ältere Leute aus ihrer Alterseinsamkeit holen oder Betreiber von Internetportalen für Mobbingopfer – sie alle setzen sich solidarisch in starken Gemeinschaften für ihre Mitmenschen ein.

 

Ein klassisches Solidaritätsbeispiel ist die Aktion von Rheinhausen. Damals, vor 20 Jahren, demonstrierten 6000 Arbeiter erfolgreich für den Erhalt ihres Krupp-Werks. Seit der öffentlichen Verkündung der geplanten Schließung des NOKIA-Werks ist das Phänomen in Form von Solidaritätskundgebungen und Demonstrationen einmal mehr in den Schlagzeilen.
Der französische Soziologe Emile Durkheim fasste Solidarität als den Zement, der die Gesellschaft zusammenhält. Die moderne Soziologie hingegen beschreibt das Phänomen als freiwilligen Akt symbolischer oder materieller Hilfe. Doch warum helfen wir überhaupt? Wie kommt es, dass wir einigen Menschen sofort zur Hilfe eilen und einige bewusst auflaufen lassen? Welche Ziele sind es wert, solidarisch angegangen zu werden, welche Umstände rufen ein starkes Gemeinschaftsgefühl der zunehmend individualisierten Gesellschaft hervor und welche nicht? Der Verhaltensforscher Karl Grammar hat die Ursprünge und Grenzen menschlicher Solidarität eingehend untersucht. Bei seinen Forschungen stieß er auf verschiedene Erkenntnisse: Zunächst einmal unterstützen wir Menschen, die wir als uns ähnlich ertrachten. Schließlich helfen wir Menschen, um die Erhaltung unserer Informationen zu sichern. Die Biologie erklärt dies so: Wer uns ähnlich ist, so denken wir, trägt auch Teile unseres persönlichen Erbguts in sich. Eine zweite Theorie hingegen beruft sich auf das Reziprozitätsprinzip. Die Metapher des guten Samariters besagt, dass wir helfen, wenn wir glauben, von ebendieser Person in einer ähnlichen Situation ebenfalls Hilfe zu erhalten. Zusätzlich unterstreicht das Zeigen von Solidarität den starken sozialen Status, denn nur wer stark genug ist, kann selbst andere unterstützen.
Doch je höher die Anonymität in einer Gesellschaft, desto geringer ist auch die Solidarität. Solidarität zu leben ist besser, als nur davon zu träumen. Dabei spielt die Zugehörigkeit für viele Menschen eine entscheidende Rolle. Einer der Gründe ist, dass das Gefühl der Klassenzugehörigkeit stark nachgelassen hat. Dies empfinden viele Menschen als Verlust von Sicherheit und suchen diese Sicherheit in neuen Aufgabenfeldern, in denen sie (ehrenamtlich) ihre Werte leben und sich selbst verwirklichen können, während sie gleichzeitig anderen Menschen etwas Gutes tun.
Rolle des Fernsehens
Dieser Trend wird von einem Blick ins TV-Programm durchaus bestätigt. Solidarische TV-Sendungen wie „Helfer mit Herz“ oder „Engel im Einsatz“, in denen TV-Teams für in Not geratene Familien die Renovierung des Eigenheims finanziert und übernimmt, gibt es genug. „Einsatz in vier Wänden“ und „Familienhilfe mit Herz“ sind andere Beispiele für derartige Sendungen. Helptainment betiteln Experten diese Art der Doku-Soap, in denen Menschen geholfen wird, denen Schreckliches zugestoßen ist, wie zum Beispiel Todesfälle in der Familie oder schwere Krankheiten. Die Einschaltquoten sprechen für sich: Knapp fünf Millionen Zuschauer schauen diese Sendungen. Laut Andrea Nolte, Medienwissenschaftlerin der Universität Paderborn, ist das Ansehen dieser Sendungen eine Ersatzhandlung für mangelndes solidarisches Engagement in der realen Welt. Dies beruhigt das Gewissen, denn sobald das Fernsehen zur Stelle ist, muss nicht zwingend jeder Einzelne selbst handeln, um das Leid der Welt zu lindern. jbö
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