(Fabian May) Was haben Bahnhöfe und Essensmüll-Vermeidung miteinander zu tun? Zunächst einmal gar nichts, außer dass beide interessante Anlässe zu sozialen Beobachtungen bieten. Für mich sind sie durch zwei Erlebnisse miteinander verknüpft.
Das erste dreht sich um Foodsharing. Konkret: um eine junge Dame am Hauptbahnhof und eine Handvoll Kartoffeln. Sie wollte meine Kartoffeln, aber, weil sie auch eilig irgendwohin wollte, nicht aussteigen. So warf ich das Netz, sozusagen während sie vorbeifuhr, in die geöffnete S-Bahn-Tür.

Vor dem Hintergrund der persönlichen Zeitökonomie ist es verständlich, dass man Kontakte, die vor allem der Warenübergabe dienen, aufs Wesentliche beschränkt. Und Bahnhöfe sind schon immer Hauptschauplätze solcher Begegnungen gewesen.
Doch habe ich tatsächlich manchmal zu viel Zeit und ein wenig Langeweile. Und aus einer solchen langen Weile heraus hatte ich mich auf Foodsharing angemeldet, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen, was das für Leute sind. Ich hatte meinen Eindruck, und mit Foodsharing war erst mal Schluss. Es gibt andere gute Seiten, und der Franzose sagt: Il faut passer à autre chose.

Das zweite Erlebnis fand wieder im Spannungsfeld von Bahnhof und Essensmüll-Vermeidung statt. Nur war ich diesmal der dankbare Empfänger des Essensmülls. Ich stand an der Vitrine eines Snackladens an, um mir meine morgendliche Dosis „Franzosentum“ zu beschaffen.

Mein bisschen „Franzosentum“ ist hier aus zweierlei Gründen maßgeblich: Erstens sollte mein Regionalexpress in drei Minuten kommen, aber das sollte mich nicht abhalten, mir mit aller „unpreußischen“ Gelassenheit einen Kaffee zu kaufen. Zweitens sollte sich gleich eine Gelegenheit ergeben, sich (wie ein Cliché-Franzose) von einem unvorhergesehenen Ereignis nicht dazu verleiten lassen, den Kopf zu verlieren.

Vor mir wurde eine Frau bedient. Sie fiel mir nicht weiter auf, bis sie versuchte, den Deckel auf ihren Teebecher zu klemmen. Es misslang, der Inhalt verteilte sich über Hand, Vitrine und die darin befindlichen Brötchen.

Dreierlei Betroffene: die Hand, die Vitrine und die Brötchen. Drei Akteure hinter der Theke. Was passierte nun: Einer befasste sich damit, das Wasser aufzuwischen und den Schaden zu begrenzen. Eine andere klagte, die Sauerei sei über die ganze Theke verteilt. Die Dritte nahm drei Käsebrötchen auf einmal und warf sie in den Müll. Als nächstes nahm sie ein Schinkenbaguette, um es seinem Schicksal zuzuführen.

Hier trat ich auf den Plan: „Wie bitte, dat können Sie doch verschenken“, sagte ich. Ich machte mich auf eine Belehrung über Firmenpolitik und kapitalistische Logik bereit. Doch die Angestellte argumentierte auf der Sach­ebene: „Die sind doch völlig durchgeweicht. Ich glaube nicht, dass die noch jemand nehmen will.“ Da sagte ich: „Für geschenkt würd ich’s nehmen.“ Da gab sie mir einfach das Brötchen, „hier, bitte“, und eine Serviette noch dazu.

Ich mag keinen billigen Kochschinken. Aber darum geht es hier nicht. Denn so ergab es sich, dass ich an diesem Tag ein Schinkenbrötchen für 2,20 Euro rettete. Überrascht bedankte ich mich. Die Frau neben mir hielt den fast leeren Becher über die Theke und bat um neuen Tee. Ich glaube, die verbrühte Hand schmerzte ihr. Doch man kann nicht immer allen helfen. Mit dem geretteten Brötchen ging ich von dannen und kriegte meinen Zug.

Wie gesagt: Eigentlich mag ich keinen billigen Schinken, und von unhaltbaren Zuständen in der Massentierhaltung will ich gar nicht anfangen. Doch während ich das Brötchen hinunterwolfte und mein Zug-Gegenüber mir pikiert dabei zusah, musste ich mir und dem Brötchen eingestehen: Diesmal schmeckt es.