Bild: Puristisch beginnt, was zwischenzeitlich in absolutes Chaos abdriftet: „Einstein on the Beach“ zeigte sich wandelbar. , "Einstein on the Beach": Umstrittene Aufführung Foto: ksz

Bühne. Ein Wissenschaftler stellt die Zeit, vermeintlich unumstößliches Element unseres Daseins, in Frage. Mit „Einstein on the Beach“ führt die Koproduktion von Schauspielhaus, Oper Dortmund und Chorwerk Ruhr das wohl markanteste Musiktheaterwerk des 20. Jahrhunderts auf. 

 „Die Musik hat keine Handlung, die Handlung ist das, was in den Köpfen der Zuhörer passiert“ erklärt Florian Helgath, musikalische Leitung. „Gestaltlose Leichtigkeit“ werde durch Wiederholungen zu erdrückender Schwere. Unzählige Repetitionen desselben Verses erscheinen bald wie eine Herausforderung: Wer hält es länger aus – KünstlerIn oder BesucherIn? Unter der Leitung von Kay Voges entführt die Musik von Phillip Glass und Robert Wilson in das Unerklärliche und in die Unendlichkeit geistiger Sphären.

Puristisches Chaos

Ein Zählvorgang leitete die Reise ein. Auf der Bühne eine Schauspielerin, blass und weißes Haar. Bald befreit sich die Frau aus ihrer Zwangsjacke, Wortfetzen unterbrechen die Monotonie, und der/die ZuschauerIn fragt sich das erste Mal: Was passiert hier eigentlich? Nach etwa 30 Minuten Einleitung plötzlich ein Anflug von Aktivität auf der Bühne. Nach einer Stunde ein erstes Farbenspiel, rote Blitze durchzucken den Saal, sodass es in den Augen schmerzt. Überraschung – fast hatte man vergessen, dass die Welt bunt ist.

Zweite Stunde. Majestätisch steht die befreite Frau auf einer Empore im Wind, verharrt in seltsamen Verrenkungen. Sie hat aufgehört, aneinandergereihte Wortfetzen in die Welt zu werfen. Ein Gorilla im Anzug rezitiert Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Zweiter Akt, die Frau ist wieder in ihrer Zwangsjacke, vielleicht zu Recht. Sie will etwas mitteilen, doch ihre Worte sind begrenzt und die ständige Wiederholung dient nicht der Verständlichkeit. Nach zweieinhalb Stunden erkennt man plötzlich: Schönheit. Der violinenspielende Einstein wandelt abwesend über die Bühne, nichts außer seinem Spiel scheint er wahrzunehmen. Wann er erschienen ist, vermag das Publikum nicht mehr zu beurteilen, weil er längst in eine Art Trance versunken ist. Vierter Akt, synthetische Musik verschafft Entspannung nach SopranistInnensolos. Der Gorilla rezitiert Leo Navratils „Schizophrenie und Sprache“. Das passt.

Finale

Nach dreieinhalb Stunden wandelt sich die Atmosphäre, das Finale kündigt sich an. Jetzt wird belohnt, wer immer noch auf seinem Sitz verharrt. Denn tatsächlich hat ein bemerkenswerter Teil des Publikums nach der selbstgewählten Pause nicht den Weg zurück gefunden. Einstein spielt immer weiter, die weiße Frau hat ihre psychotischen Wiederholungen aufgegeben und der Gorilla erzählt eine Geschichte. Es sei die wichtigste, die einzig wahre Geschichte zweier Liebender, deren Liebe unermesslich war. Die Oper endet mit einer Weisheit für das Leben und einem Auftrag. Erneute Verwunderung, als das Licht angeht. Längst hat man sich an die psychedelische Atmosphäre gewöhnt, aus bedrückend wurde normal. Man muss sich nur drauf einlassen.

Info: Wer die Reise in Einsteins Kopf zu Phillip Glass preisgekrönter Musik mitmachen möchte, bekommt am 4. Juni eine letzte Chance im Theater Dortmund. Informationen und Restkarten gibt es unter theaterdo.de.

Gastautorin :Katrin Skaznik

 

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