Bild: Kneipenfan, Musiker und Romancier: Rocko Schamonis „große Freiheit“ über die St. Pauli in der jungen BRD., Auf den Spuren von Genet, Fichte und Co.: Rocko Schamonis „Grosse Freiheit“ Bild: Dorle Bahlburg

Laute Jukebox-Musik diktiert den Takt in der Kneipe „Palette“. Während die einen dazu tanzen, sitzen drei Gestalten am Tresen: der Zuhälter „Wolli“, der Kunst-Bohemien Cäsar und ein Nachwuchs-Ticker mit dem bescheidenen Namen Reimar Renaissancefürstchen. Ihr Gespräch kreist um Themen wie die ein paar Meter weiter stattfindende Hausdurchsuchung der „Spiegel“-Redaktion, den irren Franz-Josef Strauß, die verdammten Amis und natürlich Drogen. Gespräche, die ein Bärtiger neben ihnen in einem Notizbuch festhält. Für die Nachwelt.
Dieser Bärtige ist natürlich der Schriftsteller und Journalist Hubert Fichte, vor dem sich Schamoni (unter anderem „Dorfpunks“) in seinem neuen Roman verbeugt. Denn Fichte saß einst tatsächlich in der „Palette“, ein Hamburger Szenelokal, in dem sich die Bohemiens, Gammler oder die Tagelöhner vom Hafen trafen. Fichte schrieb ihnen mit dem Roman „Die Palette“ ein Denkmal. Es blieb sein einziger Bestseller. Vergessen schien auch Fichtes Porträt „Wolli Indienfahrer“. Nun greift Schamoni die Lebensgeschichte von diesem Wolfgang „Wolli“ Köhler auf.3


Raus aus dem Muff der Adenauer-Ära

Und die beginnt 1950 in Sachsen. Wolli will weg von hier. Weg aus den Schlossereibetrieb seines Vaters, raus aus der spießigen Provinz. Über Umwege (Laufbursche bei der Stasi, Bergmann in Marl oder einem Wanderzirkus-Engagement) strandet er schließlich in Hamburgs anrüchigem Stadtteil St. Pauli. In der Reeperbahn sitzt Wolli mit Freund*innen im Kino, wo Godards berühmter Film „Außer Atem“ läuft. Gebannte Augen auf die Stars Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg, die auf der Leinwand lässig den Freiheitsdrang einer Jugend in der muffigen Adenauer-Ära vorlebten. In der Straße und im Bett. „Die Stimmung im Kino ist aufgeheizt, Aufruhr liegt in der Luft, die Besucher, überwiegend Studenten,  rauchen doppelt so viel wie in anderen Filmen, sie konsumieren mehr alkoholische Getränke, und nach Verlassen des Kinos sind alle ein wenig anders als zuvor, haben sich alle Typen in Belmondos verwandelt und die Frauen in Sebergs, sie gehen nach Hause, schneiden und färben sich die Haare, kleiden sich anders, bewegen sich anders, denken anders als je zuvor.“
Wie Belmondo gehört auch dieser Wolli zu den Antihelden: Rebell und Bürgerschreck, aber auch Geschäftsmann und Überlebenskünstler. Letztendlich dreht sich zwar alles ums Geld: Sex, Drugs and Alcohol. Doch im Herzen St. Paulis erschüttert dieser Hedonismus die postfaschistisch-konservativen Grundpfeiler der frühen BRD.  Schamoni, der mit Schorsch Kamerum einst selbst den Hamburger „Pudel Klub“ betrieb, schildert diesen Freiheitsdrang anhand des pulsierenden Nachtlebens: zerfahrene Kneipen-Keilereien oder das erste Konzert der Beatles, zu dem Betrunkene, Prostituierte und Freier drängen. Von dieser Welt der Ausgestoßenen und Kleinkriminellen will auch Schamoni erzählen. Wie die großen Erzähler dieser Randexistenzen Jean Genet, Jörg Fauser oder eben Hubert Fichte. Bei Schamoni gerät das jedoch zu einer sozialromantischen Hommage. Besser die Originale lesen.

Gastautor :Benjamin Trilling

Rocko Schamoni: „Grosse Freiheit“ 288 Seiten, Hanserblau. 20 Euro. Kindle, 15,99 Euro.

 

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