Bild: Ein Mann mit einer Affinität für Stanley Kubrick: Regisseur Schmidt-Rahmer, über ihm Jack Nicholson aus Kubricks „Shining“., Clockwork Orange im Grillo-Theater Foto: Jacq

Immer wieder ruft der Protagonist Alex den Zuschauenden zu: „Setzen Sie mir Grenzen! Ich möchte aufgehalten werden! Kann mich jemand aufhalten?“.
Freier Wille oder Determination? Gut gegen Böse. Täter oder Opfer? Bis zu welchem Grad ist die Konditionierung eines Menschen akzeptabel? Ist die Manipulation des menschlichen Gehirns vertretbar, solange damit Gewalttaten verhindert werden?

Clockwork Orange: Ob im Buch- oder Filmformat – der Stoff ist Kult.
Die Romanvorlage von Anthony Burgess erzählt die Geschichte des Jugendlichen Alex, der mit seinen drei Freunden um die Häuser zieht, um seiner Gewalt freien Lauf zu lassen: Die Bande verwickelt sich in Prügel- und Messerstechereien, verliert sich in verheerenden Drogenräuschen und vergeht sich an Frauen. Eines Tages bricht der Zusammenhalt des kriminellen Clans allerdings auseinander: Alex wird von seinen Freunden im Stich gelassen, die Polizei erwischt ihn, er wird wegen Mordes angeklagt und verurteilt. Er muss sich einer Gehirnwäsche unterziehen – Alex wird zum Gutsein konditioniert…
Ab dem 7. April wird der legendäre Stoff auf der Bühne des Grillo-Theaters in Essen zu sehen sein. Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer arbeitet aktuelle Fremdtexte in den Handlungsverlauf ein, beleuchtet mögliche Konflikte, die mit Migration und Integration in Deutschland einhergehen können, und konfrontiert die ZuschauerInnen unvermittelt mit einer unverhohlenen Gesellschaftskritik. Wie weit der Regisseur in seiner Inszenierung geht und inwiefern die Buchvorlage von 1961 immer noch einen aktuellen Bezug zur Gegenwart aufweist, schildert er der :bsz.

:bsz: Was ist an Ihrer Inszenierung einzigartig?

Hermann Schmidt-Rahmer: Einzigartig ist sicher, dass wir uns nicht so eng an die literarische Vorlage halten, sondern dass ich den Stoff von Clockwork Orange eher als Vehikel betrachte, um den Kern für ein heutiges Publikum erlebbar zu machen.

Wie präzise hält sich die Darstellung an den Originaltext?

Bis jetzt haben wir nur zehn Prozent Originaltext in das Stück eingearbeitet. Vor allem benutzen wir dokumentarisches Material, wie zum Beispiel soziologische Texte, die erklären, woher Gewalt kommt.

Das Stück bezieht sich implizit auf die aktuellen Erkenntnisse der Hirnforschung. Die mögliche Programmierung des menschlichen Gehirns ist ein altbekanntes wie auch heikles Streitthema. Welchen Standpunkt nehmen Sie in der Diskussion ein?
Hinzugehen und zu sagen: „Wir nutzen die Möglichkeiten, die die Neurobiologie heute hat, um tatsächlich menschliches Verhalten zu programmieren“, ist natürlich sehr heikel, weil  das dem Faschismus Tür und Tor öffnet. Auf der anderen Seite gibt es sicherlich Situationen, wo wir zunehmend zu avancierten gesellschaftlichen Maßnahmen gezwungen sein werden. Davon bin ich überzeugt und davon ist vor allem die amerikanische Forschung überzeugt.
Welche Rolle spielen Dynamik, Emotion und Eskalation in Ihrem Stück?

Diese Faktoren spielen eine große Rolle. Das Zeigen des wissenschaftlichen Aspektes des Stoffes ist äußerst wichtig, aber natürlich muss Theater immer über die Generierung von Gefühlen beim Publikum laufen. Es ist wie bei der Komposition eines Musikstücks: Wie baut man Spannungsbögen auf? Wie treibt man Dinge auf eine gewisse Spitze? Die Frage nach Dynamik und Emotionalität ist genau der Gegenstand der inszenatorischen Komposition. Das Ziel ist, dass die BetrachterInnen in der Lage sind, gedanklich mitzugehen – dies ist nur gewährleistet, wenn auf der Bühne Spannung erzeugt wird.

Wie wird das Thema Gewalt in Ihrer Inszenierung dargestellt?

Stanley Kubrick hat sich, in Bezug auf die Gewaltdarstellung, mit einem sehr, sehr geschickten Kniff gerettet: Indem er die Gewalt total ästhetisiert. Der Film beinhaltet gewaltmäßig keinen Realismus. Gewalt wird als eine musikalische Feier dargestellt. Sehr geschickt… Das machen wir nicht, weil wir uns nicht auf den Film beziehen.

Wem das Buch oder der Film gefallen hat, dem wird sicher auch die Inszenierung von Herrmann Schmidt-Rahmer gefallen. Einundfünfzig Jahre sind vergangen, seit Clockwork Orange veröffentlicht wurde. Schmidt-Rahmer bettet den Stoff in den aktuellen Kontext ein, erfindet ihn teils neu, ohne jedoch die grundlegende, moralische Fragestellung aus dem Auge zu verlieren. Lediglich LiebhaberInnen des statischen und nüchternen Theaters sollten sich fernhalten: Die SchauspielerInnen scheinen sich in ihrer Rolle des brutalen Täters oder des verzweifelnden Opfers lautstark zu verlieren.
Für die Vorstellungen im April und im Mai gibt es noch Karten. Fällt selbst ein Urteil über gut und böse, richtig und falsch. Lust auf eine Gehirnwäsche?

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