Bild: Demonstrierende am 16. August in Minsk: Schätzungsweise 200.000 Personen demonstrierten gegen den Präsidenten Lukaschenka. , Proteste wegen vermuteten Wahlbetrugs Homoatrox https://es.wikipedia.org/wiki/Archivo:2020_Belarusian_protests_%E2%80%94_Minsk,_16_August_p0034.jpg, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Demonstrierende atmen auf nach Woche von gewaltsamer Repression 

In Belarus sind am Wochenende rund 200.000 Demonstrierende auf die Straßen gegangen, um gegen den autoritären Präsidenten Lukaschenka zu protestieren.

Vergangenen Sonntag marschierten die größten Demonstrationen durch die belarussische Hauptstadt Minsk, die das Land je gesehen hat. Nach einer Woche anhaltender Proteste gegen Staatsoberhaupt Aljaksandr Lukaschenka, der eine Woche zuvor einen Wahlsieg für sich beanspruchte, der enorme Skepsis erzeugte, zog es nach Schätzungen rund 200.000 Demonstrierende nach Minsk. Die Demonstrationen hatten im Vergleich zu den vorherigen Tagen eine grundverschiedene Stimmung. Denn während zuvor noch repressiv gegen die Protestierenden vorgegangen wurde, wobei es zu zwei Todesfällen, vielen Verletzungen und etwa 7.000 Festnahmen kam, wurde den Regierungskritiker:innen am Sonntag freies Geleit gewährt, die Demos nahmen infolgedessen einen festiven Charakter an. Es ist ein Zeichen, dass die belarussische Regierung im Zuge der Proteste und der internationalen Aufmerksamkeit eine andere Strategie führen muss. Nur kurze Zeit vor den Demonstrationen betonte Lukaschenka jedoch die bisher gefahrene Linie, bezeichnete die Demonstrierenden als „verirrt“, „Ratten“ sowie „Dreck“ und erklärte in einer Rede an Unterstützer:innen: „Wenn ihr Lukaschenka zerstört, wird es der Anfang des Endes für Euch sein.“ 
Häufig als der „letzte Diktator Europas“ bezeichnet, behauptete der amtierende Präsident am 9. August, die Wiederwahl zum Präsidenten mit 80 Prozent der Stimmen eingefahren zu haben. Lukaschenka ist seit 1994 im Amt. Seine Hauptgegnerin war Svetlana Tikhanovskaya, die ihre Kandidatur bekanntgab, nachdem ihr Mann Segei Tikhanovskaya, ein beliebter Blogger, der eigentlich für das Amt kandidieren wollte, festgenommen wurde. 
Belarus befindet sich wie viele osteuropäische Staaten in einem Interessenskampf zwischen Russland und der europäischen Union. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn fand klare Worte im Gespräch mit dem Deutschlandfunk: „Ich glaube, was sich in diesem Land abspielt, ist Staatsterrorismus.“ Nun wollen die EU-Außenminister:innen über mögliche Sanktionen gegen Belarus entscheiden. Der Kreml lies am Sonntag verkünden, dass Russland Belarus beistehe und „die nötige Unterstützung bereitstelle, um die Probleme zu lösen, die aufgekommen sind.“ Russland verwies auf einen gemeinsamen Sicherheitspakt, der in den frühen 90ern zwischen Belarus, Russland und sieben weiteren ehemaligen Sowjetstaaten geschlossen wurde, bei dem Aggressionen gegen ein Mitglied einer Attacke gegen alle gleichkommt. Ein Verweis, der deutlich in Richtung der beobachtenden NATO-Kräfte gerichtet ist, die sich laut Lukaschenka an den westlichen Grenzen des Landes anhäufen sollen.           

    :Stefan Moll

Belarus oder Weißrussland? 

 

Am Rande der Demonstrationen gegen Staatsoberhaupt Lukaschenka spielte sich vor allem in westlichen Medien eine weitere Debatte zu Belarus ab. Oder heißt es Weißrussland? Und warum wird Präsident Lukaschenka auf einmal mit einem „a“, statt einem „o“ am Ende geschrieben? Grund dafür sind semantische Feinheiten, die auf tiefere Fragen der belarusischen Identität und geopolitische Abhängigkeiten sowie Geschichte hinweisen. Denn entgegen der häufigen Annahme steht das „Rus“ in Belarus nicht für „russisch“ oder „Russland“, sondern führt sich zurück auf das mittelalterliche skandinavisch-slavische Herrschaftsgebiet der Kiewer Rus, wovon die weiße Rus wohl den westlichen Teil bezeichnete. Die Bezeichnung Belarus wurde in den vergangenen Jahren zunehmend in deutschsprachigen Behörden verwendet. Nachdem die im Januar 2020 neu gegründete deutsch-belarusische Geschichtskommission den Namen „Belarus“ und das Adjektiv „belarusisch“ empfahlen, nahmen viele weitere Medien diese Bezeichnung auf. So solle deutlich gemacht werden, dass Belarus ein souveräner Staat ist. Auch bei den aktuellen Protesten spiegelt sich dieses Politikum wider, wo Schilder mit Aufschriften wie „Belarus is not Russia“ zu sehen waren. 

Auch der Name des Präsidenten ist in den westlichen Medien nicht mehr ganz eindeutig. Häufig ist noch „Lukaschenko“ zu lesen. Die O-Variante entspricht dabei der russischen, statt der belarusischen Transkription, obwohl die Aussprache in beiden Sprachen einen A-Laut verwendet.

:stem

 

Zwischen Russland und Europa 

Nicht nur geographisch, auch politisch liegt Belarus zwischen Westeuropa und Russland. Während der Westen versucht, die politische Landschaft der ehemaligen Sowjetrepublik mit Sanktionen zu beeinflussen, sind die Beziehungen zu Russland intimer. 

Nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 90ern orientierten sich viele der ehemaligen sozialistischen Staaten im Osten Europas zum Westen hin. Seit dem 1. Mai 2004 grenzt Belarus über Polen, Litauen und Lettland an die EU, doch im Gegensatz zu diesen Staaten, die im Laufe der Zeit vom Ostblock zur Union wechselten, ging das Land seit der Machtübernahme Aljaksandr Lukaschenkas einen eigenen Weg. Zwar wurde 1995 ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen unterzeichnet, dieses wurde aufgrund der Verschlechterung der bilateralen Beziehungen jedoch nie ratifiziert. Durch die Entscheidung, sich von Westeuropa unabhängig zu machen, war Belarus fast vollständig aus europäischen Organisationen ausgeschlossen und wurde erst 2009 im Rahmen der Östlichen Partnerschaft in die Europäische Nachbarschaftspolitik aufgenommen. Diese wechselseitige Isolation ist aus Sicht der EU jedoch auch ein Instrument dafür, die politische Lage im osteuropäischen Land zu beeinflussen. Mit Sanktionen und Embargos soll auf Lukaschenka und die politische Führung Druck gemacht werden. So verhängte der Rat der Europäischen Union beispielsweise im Juni 2011 ein Waffenembargo und ein Exportverbot für Materialien, die zu interner Repression verwendet werden könnten, und erweiterte die Liste der Personen, denen die Einreise verwehrt wird. 

Die Beziehungen zum östlichen Nachbarn, Russland, sind deutlich besser. Schon früh wurde deutlich, dass Lukaschenka zur Absicherung seines Mittelweges auf starke Kooperation mit Moskau setzt. So schlossen Russland und Belarus sich in den 90ern zu einem Staatenbund zusammen, der sich auf eine Verteidigungs- und Wirtschaftsgemeinschaft stützt. Belarus kaufte zudem russisches Gas jahrelang zum Vorzugspreis. Nach der Machtübernahme Putins hat es jedoch auch zwischen den Unionspartnern immer mal wieder Probleme gegeben. Während man mit Blick auf die Annexion der Krim und russischer Aktivitäten in der Ukraine befürchten muss, Belarus solle durch die Staatenunion irgendwann ebenfalls in den russischen Staat einverleibt werden, macht Lukaschenka im Laufe der Partnerschaft jedoch immer wieder deutlich machte, das sein Land unabhängig sei und auf Augenhöhe mit Russland stehen will. 

Die Beziehungen kühlten deshalb soweit ab, dass sich Lukaschenka tatsächlich ein wenig Richtung Westen öffnete. Der erste Schritt in diese Richtung war die Integration von Belarus in die Östliche Partnerschaft neben der Ukraine und Moldawien. Der Handel mit der EU stellt nun fast ein Viertel des gesamten Handels von Belarus dar. Für das in Sachen Energieversorgung stark von Russland abhängige Land ist die EU ein unverzichtbarer Handelspartner geworden. 2016 hob die Union die wirtschaftlichen Sanktionen für Belarus mit Ausnahme des Waffenhandels auf, wodurch sie die Annäherungspolitik Aljaksandr Lukaschenkas würdigte. 

:Philipp Kubu 

 

   

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