Bild: Psychisch kaputter Poet? Tatsächlich hatte Goethe lebenslang mit Depressionen und Ängsten zu kämpfen, die er allerdings erfolgreich selbst therapierte., Des Dichters Lebenskunst: Kommunikation, Konfrontation und Kreativität Kupferstich von 1791

Dichter, Politiker, Naturwissenschaftler – und zwar in allem einer der bedeutendsten seiner Zeit. Johann Wolfgang von Goethe war zweifelsohne ein vielseitiger Mensch. Doch auch er blieb nicht von Ängsten und seelischen Abgründen verschont. Wie seine autobiografischen Schriften und brieflichen Korrespondenzen zeigen, musste er sich sein ganzes Leben lang mit psychischen Problemen auseinandersetzen. Dies gelang ihm erstaunlich gut – ohne jegliches Fachwissen therapierte er sich nämlich selbst.

Depressive Episoden, dauerhafte Verstimmung und zahlreiche Ängste – Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) hatte stets mit seiner Psyche zu kämpfen. Woher will man das heutzutage wissen, fragen sich nun womöglich einige von Euch. Tatsächlich gibt es verschiedenste Quellen, die uns ein ungefähres Bild von Goethes seelischem Zustand im Laufe seines Lebens zeichnen. Er schrieb nicht nur viele persönliche Briefe, sondern folgte auch dem damaligen Trend: In der Epoche der Em­pfindsamkeit war es wichtiger denn je, Gefühle, Gedanken und Ideen sprachlich festzuhalten. Als begabter Dichter schaffte Goethe dies mit einer überragenden Eloquenz: 80.000 bis 90.000 verschiedene Wörter nutzte er für die Beschreibung seiner Empfindungen, während heutzutage selbst der Wortschatz gehobener Zeitungen nur maximal 2.000 Wörter beträgt.

Depression, Suizidgedanken, Ängste

Bereits mit 14 Jahren erlebte der junge Johann seine erste depressive Episode (siehe Infobox). Er verlor das Interesse an allem, was ihm zuvor Spaß gemacht hatte, zog sich zurück, aß beinahe nichts mehr und spielte sogar mit dem Gedanken, sich etwas anzutun.

"Ich empfand nun keine Zufriedenheit, als im Wiederkäuen meines Elends und in der tausendfachen imaginären Vervielfältigung desselben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch diese Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In diesem traurigen Zustande kam mir nichts mehr wünschenswert, nichts begehrenswert mehr vor.“

So beschreibt er später in seiner Autobiografie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ diese mehrere Monate währenden Phasen, die sich in seinem späteren Leben noch einige Male wiederholen sollten – getriggert etwa von einem frustrierenden Jurastudium oder unerwiderten Liebesgefühlen. Wie er allerdings im Jahre 1766 seiner Schwester per Brief gestand, litt er sehr häufig, auch ohne konkrete Auslöser, unter depressiver Verstimmung:

"Oft werde ich zum Melancholiker. Ich weiß nicht woher es kommt. Dann sehe ich jeden mit starrer Miene wie eine Eule an […] und dann überfällt eine Dunkelheit meine Seele, eine Dunkelheit, so undurchdringlich wie der Oktobernebel.“

Zusätzlich zu seiner depressiven Symptomatik hatte Goethe auch mit einer ausgeprägten Angststörung (siehe Infobox) zu kämpfen. Er fürchtete sich massiv vor Höhen, traute sich ab Einbruch der Dunkelheit nicht mehr an verlassene Orte und mied sowohl Lärm als auch Verschmutzungen so gut es nur ging – oder reagierte auf solche phobischen Reize mit übertriebener Angst und Panikanfällen.

Selbsttherapie zwischen Babys, Sakralbauten und Gräbern

Doch Herr Goethe wollte sich nicht von seiner Psyche unterkriegen lassen. Ganz bewusst sagte er seinen Phobien den Kampf an, indem er sich absichtlich in die angstauslösenden Situationen begab. Er stellte sich beim Zapfenstreich direkt neben die Trommler, besuchte Entbindungsstationen, deren hygienische Standards damals sicherlich zu wünschen übrig ließen, und unternahm regelmäßig nächtliche Spaziergänge auf Friedhöfen. Damit tat er nichts anderes, was ihm PsychotherapeutInnen heutzutage verschreiben würden. Es könnte beinahe aus einem verhaltenstherapeutischen Lehrbuch zur Expositionsbehandlung von Angststörungen stammen, wie Goethe seine Höhenangst überwand: Er reiste nach Straßburg, bestieg dort den 142 Meter hohen Turm des Münsters, näherte sich Stück für Stück dem Geländer an und setzte sich so seiner Panik aus – dabei merkte er, wie diese mit jeder Sekunde und jeder Wiederholung immer mehr nachließ. Nach und nach bekam er seine Phobien dadurch tatsächlich in den Griff, wie die folgende Passage aus „Dichtung und Wahrheit“ zeigt:

"Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward. […] Ich habe es auch wirklich darin soweit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals wieder aus der Fassung setzen konnte.“

Therapie auf dem damals höchsten Bauwerk der Menschheit: Am Geländer des 142 Meter hohen Turmes stellte sich Goethe seiner Höhenangst. Foto: Jonathan Marz,  Wikimedia Commons (CC-SA 3.0)

Antidepressiva? Biorhythmus, Beschäftigung und Sozialkontakte!

Seinen negativen Verstimmungen trotzte Goethe mit zahlreichen Strategien, die heute in der Depressionsbehandlung ganz selbstverständlich eingesetzt werden. Er merkte bereits früh, wie sehr ihn eine an seinen natürlichen Tagesrhythmus angepasste Alltagsroutine stabilisiert. Daher legte er sich feste Zeiten zurecht, zu denen er arbeitete, Mahlzeiten aß oder mit seinen Mitmenschen verkehrte. Zudem unternahm er bewusst ausgiebige Spaziergänge, die ihm einen klareren Kopf verschafften.

Eine seiner wichtigsten Stützen stellten jedoch seine engsten Vertrauten dar. Er kommunizierte regelmäßig mit mehreren Bezugspersonen und arbeitete mit ihnen seine inneren Konflikte auf. Beinahe therapeutisch muten die zahlreichen schriftlichen Korrespondenzen an, die er der Nachwelt hinterlassen hat. Seine langjährige Brieffreundin, Auguste zu Stolberg, die mehrere hundert Kilometer entfernt wohnte, könnte man aus heutiger Sicht als eine Art Fern-Psychologin bezeichnen. Sie fungierte für Goethe als neutrale Verbündete und half ihm beträchtlich, aktuelle und vergangene Probleme aufzuarbeiten – daher ist es nicht verwunderlich, dass der Dichter zeitweise mehrere Briefe pro Tag an sie verfasste.

Geheimwaffe Kreativität

Indem Goethe mit seinen Bezugspersonen offen über seinen seelischen Zustand sprach, ordnete er seine Emotionen zunächst, um sie überhaupt verbalisieren zu können. Er stellte bereits in seiner Jugend fest, dass es ihm half, seine Empfindungen in Worte zu fassen und ihnen einen künstlerischen Rahmen zu geben. Immer wieder von seinem Umfeld ermutigt, begann er also zu schreiben – und nutzte die kreative Tätigkeit nicht selten dazu, seine depressiven Krisen zu bewältigen. So entstand mit 24 Jahren etwa sein weltbekannter Roman „Die Leiden des jungen Werthers“, in dem er seine unerfüllte Liebe zu Charlotte Buff, seine damit verbundenen negativen Gefühle und Selbsttötungsphantasien verarbeitete. Laut eigener Aussage erlebte er sich, nachdem er das Werk innerhalb von vier Wochen komplett niederschrieb, als sei er dem Tod entronnen und wie neu geboren.

Das Schreiben ermöglichte es Goethe nicht nur, seinen Empfindungen gedanklich und poetisch eine Gestalt zu geben, sondern vermittelte ihm darüber hinaus das Gefühl, sich mit einer sinnstiftenden Tätigkeit zu befassen. Kombiniert mit einem stabilen Tagesrhythmus und ausreichend sozialer Aktivität sah der Dichter hierin das beste Mittel, um Depressionen vorzubeugen. Tatsächlich scheint es, als hätte er seinen persönlichen Weg gefunden, um das Beste aus seinen psychischen Konflikten zu machen. In einem seiner letzten Gespräche mit einem engen Vertrauen gesteht er dennoch, dass dies alles andere als einfach war:

"Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt.“

Dennoch hat Herr Goethe im Laufe seines Lebens eine Menge Bewundernswertes vollbracht – und das ganz ohne Antidepressiva.

Infobox

Eine depressive Episode ist eine mindestens zwei Wochen anhaltende Kombination von gedrückter Stimmung, Interessenverlust und vermindertem Antrieb. Zusätzlich können Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Suizidgedanken sowie Gefühle der Schuld oder Wertlosigkeit auftreten.
Angststörung ist ein Oberbegriff für psychische Störungen, bei denen entweder eine übertriebene Angst vor einem konkreten Objekt bzw. einer Situation besteht (Phobie) oder bei denen Betroffene unter diffusen Ängsten beziehungsweise Panikattacken leiden.


:Melinda Baranyai
 

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