„Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie.“ (Franz Kafka)
So berühmt wie typisch ist dieser Aphorismus, an dem sich Kafka-Exegeten seit Jahrzehnten abarbeiten: Für manche sind die geheimnisvollen Worte nicht zu dechiffrieren, andere glauben ad hoc des Rätsels Lösung zu kennen. Ob autobiographisch, philosophisch, psychoanalytisch oder zionistisch – den einen oder anderen Interpretationsansatz für Kafkas Werk hat selbst der geneigte Laie parat. Und dann mal gucken, wie es passt. Ähnlich versucht es die Hauptfigur in „Kafkas Leoparden“, einem Kurzroman des brasilianischen Autors Moacyr Scliar. Nur ist der junge bessarabische Jude Benjamin nicht als Liebhaber deutsch-jüdischer Literatur ins Prag des Jahres 1916 gereist, sondern als Revolutionär. Verborgen hinter den kryptischen Zeilen von „Leoparden im Tempel“ vermutet der tollpatschige Trotzkist eine kommunistische Geheimbotschaft – was ihn in kafkaeske Verwirrung führt.
„Kafkas Leoparden“ ist bezeichnend für die starke schnörkellose Kurzprosa des brasilianischen Autors Moacyr Scliar. Pünktlich zum Gastauftritt Brasiliens während der Frankfurter Buchmesse diesen Oktober ist die bereits im Jahr 2000 verfasste Novelle erstmals ins Deutsche übersetzt worden. Scliar, ein Sohn jüdischer Einwanderer aus dem osteuropäischen Bessarabien, wurde im brasilianischen Porto Alegre geboren, wo er 2011 auch verstarb. Sich selbst bezeichnete er als „Schriftsteller, Arzt und Jude“. Wie viele Intellektuelle seiner Zeit sei er als junger Mann Mitglied einer linken Gruppierung gewesen, schreibt Michael Kegler, der „Kafkas Leoparden“ übersetzt hat, im Nachwort. Folglich zeichnen zwei Elemente Moacyr Scliars Erzählungen aus: Der melancholisch-humorvolle Umgang mit dem Scheitern großer linker Utopien und einfache jüdische Helden.
Mit weiteren ins Deutsche übersetzten Romanen wie „Der Zentaur im Garten“, „Die Ein-Mann-Armee“ oder „Das seltsame Volk des Rafael Mendes“ ist Scliar der am meisten wieder- und neu aufgelegte brasilianische Autor auf der Frankfurter Buchmesse. Sein Kurzroman „Max e os Felinos“ von 1981 gilt als Inspiration für Yann Martels Weltbestseller „Life of Pi“ („Schiffbruch mit Tiger“).
Das Mäuschen und die großen Katzen
In „Max e os Felinos“ war es ein Jaguar, der die Hauptfigur in einem Boot begleitet hat; der Schneider Benjamin in „Kafkas Leoparden“ bekommt es mit eben diesen Raubkatzen zu tun. Ausgerechnet als „Ratinho“ („Mäuschen“) verspottet, möchte der junge Idealist aus Tschernowitzky (heute Ukraine) den letzten Wunsch seines schwer kranken Freundes Jossi erfüllen: Er muss nach Prag reisen, um dort einen revolutionären Geheimauftrag auszuführen. Den soll Jossi von seinem großen Idol Leo Trotzki persönlich erhalten haben. Angekommen in Prag, wird Benjamin der Verlust wichtiger Daten zum Verhängnis. Kafkas geheimnisvoller Aphorismus scheint die Lösung seiner Probleme zu sein.
Ein wenig einfallslos arrangiert wirkt das kafkaeske Umherirren des kleinen Ratinho im großen Prag der herannahenden bolschewistischen Oktoberrevolution: Wie durch Geisterhand gerät er trotz widriger Umstände an die vermeintlich richtigen Leute. So kommt es an Kafkas Haustür in der Alchemistengasse zur Begegnung mit dem damals noch wenig geschätzten und von Tuberkulose geschwächten Schriftsteller. Dessen rätselhafte Worte gewinnen später in Brasilien erneut an Bedeutung und begleiten Benjamin dort bis ans Sterbebett. Ein weltumspannender Plot sozusagen – einfach und berührend erzählt, aber keine dramaturgische Meisterleistung.
Hin zum Text
Doch Scliars historische Novelle besitzt noch eine versteckte Botschaft, was sie schließlich rund macht: Es ist ein Wink in Richtung textimmanenter, autorunabhängiger Literatur-Interpretation. Benjamins Bemühungen nämlich, den Sinn von „Leoparden im Tempel“ zu verstehen, scheitern an seiner klaren, aufs Revolutionäre beschränkten Erwartungshaltung. „Rätselhaftigkeit“, so der fiktive Kafka: „Manche meinen, das sei das Problem. Für mich ist es die Lösung“.
Mit dem Konzept einer sozialistisch engagierten Literatur brachten marxistische Interpreten Kafkas im Ostblock zum Teil sogar verbotene Texte nicht in Verbindung – zumindest bis in die 60er Jahre. Andere linke Denker wiederum, z.B. Deleuze und Guattari, entwickelten später – auf Fragmenten Kafkas basierend – ein Konzept der „kleinen Literatur“, das besonders einfacher literarischer Sprache, wie Kafka sie pflegte, revolutionäres Potential attestiert.
Moacyr Scliar: „Kafkas Leoparden“, Lilienfeld Verlag, 160 Seiten, 18,90 Euro
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