Bild: Karl Marx (1861) – ein Humanist und Gegner der Entfremdung., Karl Marx und sein Menschenbild – Teil I Foto: Wikimedia Commons

Im 20. Jahrhundert beriefen sich revolutionäre Gruppierungen wie die russischen Bolschewiki oder die Anhängerschaft Mao Zedongs auf das Werk des deutschen Philosophen und Ökonomen Karl Marx (1818 bis 1883) und strebten in ihrem Selbstverständnis zum Wohle der Menschen den Fortschritt und den Kommunismus an. Wo diese Gruppierungen oder ihre Ableger gewaltsam an die Macht gelangten, errichteten sie jedoch totalitäre Systeme, von denen einige zu den inhumansten und mörderischsten Regimen der Menschheitsgeschichte gehören. Die Konterfeis von Karl Marx und Friedrich Engels fanden sich in den ‚roten‘ totalitären Staaten allgegenwärtig neben denen von Personen wie Lenin, Stalin oder Mao. Diese propagandistische Vereinnahmung durch den Bolschewismus wurde in der westlichen Welt größtenteils unhinterfragt übernommen und erschwert oder verstellt bis heute leider vielen Menschen den Zugang zu Karl Marx’ tatsächlichem Denken. Dabei hat Marx bereits 1844 in seinen – bedauerlicherweise erst 1932 veröffentlichten – „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ gar vor solch einem „rohen Kommunismus“ gewarnt, wie er später im Bolschewismus verwirklicht wurde.

Neben der (in Wahrheit paradoxen) Unterstellung, der geistige Wegbereiter dieser totalitären Systeme gewesen zu sein, wird Marx (wegen der Assoziationen mit dem Bolschewismus) zudem häufig vorgeworfen, sein „Materialismus“ sei ein auf Habgier basierendes Menschenbild und sein kommunistisches Ideal sei eine Menschheit, die ihre Freiheit und Individualität gegen absolute Gleichheit eingetauscht habe. Diese Annahmen beruhen auch auf einem schlichten Missverständnis des Begriffes „Materialismus“: Im profanen Sprachgebrauch wird Materialismus als Bezeichnung für eine auf materiellen Besitz hin orientierte Motivation gebraucht oder für ein Menschenbild, welches dem Menschen primär einen solchen Lebensantrieb unterstellt. In der Philosophie dagegen bezeichnet der Materialismus eine Denkrichtung, welche die Vorgänge auf der Welt durch die Materie und deren Naturgesetzmäßigkeiten erklärt. Karl Marx’ Weltsicht, welche den starken historischen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Produktionsweise und Gesellschaftsform betont, wird darum als „historischer Materialismus“ bezeichnet. Marx selbst sprach stattdessen von „Humanismus“ oder „Naturalismus“.

Die menschliche Arbeit…

Marx’ Philosophie zielt im Kern auf die Befreiung des Menschen von der „Entfremdung“; sie stellt einen humanistischen Protest gegen die Entfremdung und gegen das dar, was diese dem Menschen zufügt. Unter Entfremdung versteht Marx (wie später auch Erich Fromm) die Art der Erfahrung, bei welcher der Mensch sich selbst in seinem Leben nicht als aktiv handelnden Urheber erfährt, nicht als Subjekt seiner Handlungen, nicht als denkende und fühlende Person, sondern sich als Fremden erlebt, als Objekt, als Werkzeug oder Spielball fremder Kräfte oder gar seiner eigenen ‚Schöpfungen‘. Dem entfremdeten Menschen sind er selbst, die anderen Menschen, die Dinge und die Natur fremd geworden. Im Folgenden werden Marx’ Ausführungen in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844“ zur Entfremdung der Arbeit im kapitalistischen Wirtschaftssystem in ihren Grundzügen betrachtet, um dadurch die Grundlage von Marx’ Analyse der Entfremdung zu vermitteln.

Marx sieht die Ursache für die Entfremdung des modernen Menschen in der Entfremdung der Arbeit. Dabei ist die Arbeit in Marx’ Weltsicht vielmehr eine anthropologische als eine bloß ökonomische Kategorie und von zentraler Bedeutung. Denn die (nicht-entfremdete) Arbeit ist für Marx nicht nur ein Mittel, um Produkte zu erzeugen, sondern ein Selbstzweck: Sie ist Ausdruck der individuellen physischen und psychischen Kräfte des Menschen und ein Prozess, in dem der Mensch sich entwickelt und er selbst wird. Die (nicht-entfremdete) Arbeit stellt für Marx als „freie bewusste Tätigkeit“ sogar den „Gattungscharakter des Menschen“ dar, der ihn vom Tier unterscheidet.

…und ihre Entfremdung

Im kapitalistischen Wirtschaftssystem ist die Arbeit nach Marx jedoch in zweifacher Hinsicht entfremdet. Zum einen ist sie es im Akt der Produktion – im frühen Kapitalismus vor allem wegen monotoner, mechanischer und subjektiv als sinnlos empfundener Tätigkeiten, durch die sich die Arbeitenden „erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich“ fühlen. Zum anderen ist die Arbeit entfremdet, da sie selbst nicht der Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeitenden dient (wie bei der Subsistenzwirtschaft), sondern bloß ein Mittel zum Geldverdienen darstellt, um die eigenen Bedürfnisse außerhalb der Arbeit befriedigen zu können. Die Arbeit gehört somit nicht den Arbeitenden selbst, sondern den KapitalistInnen, und auch die Arbeitenden gehören in der Arbeit ihnen. In der entfremdeten Arbeit wird den Arbeitenden zudem auch das Produkt ihrer Arbeit entfremdet, da es als „Vergegenständlichung der Arbeit“ zur Ware wird.

Die Arbeit und die Arbeitenden selbst werden auch zu Waren, wobei die Arbeitenden die Arbeit als Ware zum Geldverdienen selbst brauchen, um ihre materielle Versorgung sicherzustellen. Außerdem werden die Arbeit und die Arbeitenden zu Mitteln, um Dinge zu produzieren, die den Arbeitenden als fremde Objekte, als von ihnen unabhängige Mächte gegenüberstehen. Die Arbeitenden müssen im Kapitalismus nach Marx’ Analyse also entfremdet arbeiten, um zu überleben und können nur in dieser entfremdeten Arbeit Arbeitende sein. Das Produkt, welches sie erzeugen, ist nicht ihr Produkt, in dem sie sich erkennen könnten, wie es bei einem Produkt freier Arbeit der Fall wäre. Sie erzeugen ein ihnen fremdes Produkt, das sie durch das kapitalistische Wirtschaftssystem bedingt knechtet und zum bloßen Mittel seiner Produktion degradiert. Die Arbeitenden dienen somit dem Gegenstand, den sie selbst erschaffen haben.

Die Entfremdung der Arbeit entfremdet den Menschen nach Marx aber nicht nur sich selbst und den Produkten seiner Arbeit, sondern auch von der Natur, seinem menschlichen Gattungswesen und seinen Mitmenschen und erzeugt schließlich eine insgesamt entfremdete Gesellschaft. Marx’ Analyse dieser weiteren Aspekte der Entfremdung wird in der nächsten Ausgabe der :bsz behandelt, um damit einen Beitrag zum tieferen Verständnis von Marx’ Weltsicht, Menschenbild und Werk zu leisten.

Patrick Henkelmann

 

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