Bild: Umdenken und Umlenken: ProtestantInnen demonstrieren am 22. Dezember in Neu-Delhi gegen die noch in weiten Teilen des Landes akzeptierte Gewalt gegen Frauen., Prä- und Postvention bei Missbrauchsverbrechen Foto: Nilroy (Nianjana Roy), Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Neu-Delhi: Am 16. Dezember wurde eine 23-jährige Studentin in einem fahrenden Bus von mehreren Männern brutalst vergewaltigt, unter anderem mit Eisenstangen penetriert. Zwei Wochen später erlag die junge Inderin ihren schweren inneren Verletzungen.
Pondicherry: An Neujahr wurde eine 17-jährige Schülerin von zwei Männern aus einem Bus gelockt und anschließend vergewaltigt.
Punjab: Erneuter Fall von Gruppenvergewaltigung. Ein Polizeisprecher gab am 13. Januar bekannt, dass eine 29-Jährige sieben Männer anklagt, sie, ähnlich wie im Fall der verstorbenen Studentin aus Neu-Delhi, in einem Bus entführt und anschließend vergewaltigt zu haben. Einer der Angeklagten hat die Tat bereits gestanden.
In Indien vergrößert sich derzeit die Welle der Proteste: Frauen müssen besser geschützt werden und die indische Polizei tut zu wenig gegen die zahlreichen Vorfälle sexueller Nötigung und Gewalt.

Es ist erschreckend, wie Einzelpersonen in Politik und Öffentlichkeit auf die brutale Vergewaltigung der Studentin reagierten. „Wenn Vergewaltigung Gleichaltrigen oder Älteren angetan wird, ist das verständlich“, kommentierte Ramesh Bais, Abgeordneter der oppositionellen hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party, das bestialische Verbrechen.

Das Opfer als Mittäter

Der berühmte Hindu-Guru Aaram Bapu ist der Meinung, dass das Opfer genauso schuldig sei wie ihr Vergewaltiger. „Hätte sie Gottes Namen gerufen, hätte sie sie (die Angreifer) meine Brüder genannt, ihre Hände und Füße umklammert und gesagt, ich bin eine hilflose Frau, ihr seid meine Glaubensbrüder, dann wäre das nicht passiert“, wirft er der verstorbenen Studentin vor. Die unerträgliche Ansicht, dass eine Frau Mitschuld an ihrem eigenen Missbrauch trage, ist in Indien immer noch weit verbreitet.

„Punish rapist not protestors“

Wenn sich die Gleichgültigkeit gegenüber Vergewaltigungen und Missbräuchen von Frauen in dem rückständigen und menschenverachtenden Gedankengut einiger Köpfe jedoch nicht radikal ändert, werden sich die Befürchtungen der Protestierenden in Indien voraussichtlich bewahrheiten. Diese fürchten, dass sich an der beängstigenden Situation für hilflose Frauen nichts ändern wird. Tausende traten am Wochenende auf die Straße. „Mädchen sind keine leblosen Puppen zum Spielen“, „sag mir nicht, wie ich mich kleiden soll, sondern sag ihnen, sie sollen Frauen nicht vergewaltigen“ und „Respektiert Frauen“ ist auf den Plakaten der Protestierenden zu lesen.
Der Vater der vergewaltigten und getöteten Studentin appelierte im britischen Fernsehen: „Die Gesellschaft darf nicht länger die Augen verschließen vor solchen Vorfällen, die jeden Tag passieren“.

Postvention statt Prävention

Die Maßnahmen nach der Straftat hingegen sind umfangreich: Die Polizei erstellte einen 600-seitigen Bericht, der durch Zeugenaussagen, Obduktionsberichte und Geständnisse die Todesstrafe der Peiniger bewirken soll. Die Anwälte ,der Männer behaupten sogar, dass die Angeklagten durch Folter seitens der Ermittler­Innen zum Geständnis gezwungen und mit Eisenstangen misshandelt wurden. Infolge der Vorwürfe kristallisierte sich nun sogar eine grundsätzliche Frage unter den Anwälten Neu-Delhis heraus: Darf man eine derart grausame Tat überhaupt verteidigen? Auch im Fall der 29-jährigen Frau aus Punjab versucht die Polizei momentan, professionelle Arbeit zu leisten. Fünf der Täter wurden sofort festgenommen, für die Suche nach den letzten beiden wurde ein Spezialteam beauftragt.
Fraglich bleibt, ob die strengen Maßnahmen der Polizei lediglich eine Antwort auf den Druck der Medien und der Bevölkerung sind. Dabei vergisst die indische Polizei eins: Den Protestierenden geht es nicht nur darum, die Triebtäter im Nachhinein besonders hart zu bestrafen (sie fordern die Todesstrafe), sondern auch darum, dass die Behörden mehr dafür tun müssen, solche bestialischen Verbrechen zu verhindern.

Blick auf Deutschland

Wird auch bei uns zu wenig getan? Im Unterschied zu den Debatten in Indien empört sich Deutschland derzeit über die nachlässige Nachbearbeitung von Missbrauchsverbrechen – explizit im Fall der Deutschen Bischofskonferenz. Die kündigte neulich dem Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, den gemeinsamen Vertrag. Christian Pfeiffer sagte aus, dass die katholische Kirche seine Arbeit an der Missbrauchsstudie zunehmend kontrollieren wollte. „Die Kirchenvertreter haben über unsere Arbeit und die Texte sowie die Auswahl von Mitarbeitern entscheiden wollen“, beklagte der Leiter des Instituts im Interview mit der Passauer Presse. Die Aufarbeitung der jahrzehntelangen sexuellen Missbräuche und Vergewaltigungen von dutzenden Kindern und Jugendlichen durch Geistliche liegt erst einmal auf Eis. Warum kann bei einer längst überfälligen Missbrauchsstudie Zensur verübt werden?
„Nur weil wissenschaftliche Ergebnisse der Kirche nicht gefallen, können wir ihnen doch nicht immer neue Experten zuführen oder? Die Studien sollten unabhängig sein und vom Staat bezahlt werden, damit unsere Kinder geschützt werden!“, forderte eine Leserin der Zeit im Online-Portal.
Abgesehen von der Gemeinsamkeit, dass es in beiden Ländern zu Sexualverbrechen kam, unterscheidet sich die Problematik in Deutschland von der in Indien erheblich: Hierzulande besteht vor allem ein Aufklärungsproblem in der Weigerung der katholischen Kirche, sich mit internen Fällen von Missbräuchen auseinanderzusetzen; auch der öffentliche Diskurs sollte beeinflusst werden. In Indien wurden Sexualverbrechen an Frauen jahrhundertelang totgeschwiegen, erst die brutale Folter und Vergewaltigung einer jungen Inderin erschüttert die gesellschaftliche Tabuisierung plötzlich. Dennoch werden weiterhin Opfer zu Mittätern gemacht, während die eigentlichen Täter öffentlich mit apologetischen Aussagen bedacht werden. Letzten Endes kann die Rückständigkeit und Menschenverachtung, welche den inakzeptablen Umgang mit den unerträglichen Verbrechen erst möglich macht, nicht toleriert werden.
In beiden Fällen sind insbesondere Staat und Polizei gefordert, professionelle Prävention und Postvention von Sexualverbrechen zu gewährleisten.
 

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