Alles vergeht, nur der Durst bleibt bestehen. Der Bochumer Stadtteil Stahlhausen hat in den vergangenen hundert Jahren viele Wandlungen durchlaufen. Nun macht sich das Viertel im Westend der City auf, das neue Szeneviertel zu werden. Stahlhausen war lange Zeit das größte Arbeiterviertel Bochums und wird daher heute noch oft als Blaubuxenviertel bezeichnet. Hier unterhielt der Bochumer Verein (später Thyssen/Krupp) seine weit ins Land greifenden Produktionsanlagen. Besonders dank seines Glockengusses wurde der Standort legendär. Ein Spaziergang durch den Westpark verweist noch auf alte Industrieherrlichkeit, als die Schlote rauchten und die Maschinen niemals still standen. Für die Arbeiterschaft war so ein Leben natürlich scheiße. Kaum der Ständegesellschaft entwachsen, waren sie vom Land in die Stadt gezogen, um das große Los zu ziehen. Nun sahen sie sich mit dem militärischen Drill der Vorarbeiter in schmierigen Industrieanlagen zu schlecht bezahlten 12-Stunden-Schichten konfrontiert. Was taten sie (neben politischer Agitation und Praxis) also, wenn sie mal frei hatten? Richtig, saufen und das nicht zu knapp. Die Kneipenmeile im ehemaligen Arbeiterviertel muss beindruckend gewesen sein. Leider gibt es hierüber keine Forschungsliteratur, doch archivierte Zeitungsartikel um 1900 berichten immer wieder von Trunksucht, Raufereien und anderen Lastern. In der Ruhrgebietssaga „Rote Erde“ (Regie: Klaus Emmerich, 1983), erhält man einen Eindruck davon, wie so ein Besäufnis ausgesehen haben muss. Es wurde quasi gesoffen bis die Polente kam, und wenn keine kam, wurde einfach weitergesoffen. Eine lange Tradition hat sich dazumal in Szene gesetzt. Noch heute gerät manch gestandener Trinker in Wehmut, wenn er in Stahlhausen an der Theke steht und der alten Stahlarbeiter-Geschichten gedenkt, die nunmehr seit hundert Jahren von Generation zu Generation mündlich tradiert werden. Mit den Nazis kamen die Bomben, und mit den Bomben kamen die Bunker. Der im Blaubuxenviertel errichtete Luftschutzbunker bildet noch heute das Zentrum des ehemaligen Arbeiterviertels. Im Gegensatz zur üblichen Praxis wurden in ihm keine Proberäume für die lokalen Bands eingerichtet, und so stand er, während in Stahlhausen neue Kneipen eröffnet wurden und sich allmählich auch das Rotlichtmilieu etablierte, bis in die 90er-Jahre bedrohlich in der Gegend rum. Dann unternahm die damals noch junge kreative Szene den Versuch, mit dem Kulturzentrum „Bastion“ den Bunker (und auch das Viertel) kulturell aufzuwerten. Es blieb bei dem Versuch. Doch dann geschah etwas Erstaunliches. Mit den Nullerjahren nahm das Viertel an Fahrt auf. Die Jahrhunderthalle hatte sich als Hauptspielort der Ruhrtriennale etabliert und Stahlhausen stand auf einmal im Zentrum der bundesweiten Kultur. Dann ging es Knall auf Fall. Kaum drei Jahre ist es her, dass sich das Rottstr5Theater gründete und viele Künstler zu Neueröffnungen diverser Kreativ-Kneipen im Umfeld inspirierte. Gerade die renovierten Opa-Eckkneipen boten den nötigen Charme für Vernissage und DJ-Set. Und selbst der ehemalige Luftschutzbunker durchlebt in diesen Tagen eine folgenreiche Wandlung. Er wird zum „Zentralmassiv“ umgebaut. Ein riesiger postmoderner Büro- und Wohnkomplex. Schon sind die ersten Lofts im Gipfel verkauft. In den unteren Räumen können seit 9 Monaten 250 Studierende auf 1200 Quadratmetern eine Ausbildung in den Bereichen Audio, Digitalfilm, Webdesign, digitaler Journalismus und Games absolvieren. Grund genug für das altehrwürdige Café Treibsand seinen Standort von der Castroper Straße direkt in den Bunker zu verlegen. Und nachdem die Partysektion das nahe „Haus Lotz“ für ihre All-Nighter auserkoren hat, dürfte es als gesichert gelten, dass die Trinkertradition in Stahlhausen auch in den nächsten Jahrzehnten nicht zum Erliegen kommen wird.
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