Darf der Adorno-Preis an eine Israel-Gegnerin verliehen werden? Diese Frage wird derzeit heiß diskutiert. Dabei geht es vor allem um Butlers Positionen zum Nahost-Konflikt. So findet es Butler, die sonst vor allem im Bereich der Geschlechterforschung eine wichtige Rolle spielt, etwa „außerordentlich wichtig“, die Terror-Organisationen Hamas und Hisbollah als „soziale Bewegungen“ und nicht zuletzt als „Teil einer globalen Linken“ zu verstehen. Außerdem ist sie Mitglied in der Organisation „Boycott, Divestment and Sanctions Movement“ (BDS). Die Organisation setzt sich für die faktische Auflösung des Staates Israel ein. Selbst antizionistische Hardliner wie der amerikanische Politikwissenschaftler Norman Finkelstein gehen zu BDS auf Distanz. Seit 2009 ist Butler zudem Mitglied des „Russel-Tribunals zu Palästina“, welches, in Anlehnung an das Vietnam-Tribunal von 1966, israelische Menschenrechtsverletzungen dokumentieren will.
„Eine Denkerin, deren Geschäft darin besteht, (…) den ubiquitären Antizionismus und Antiamerikanismus moralphilosophisch zu veredeln, mit dem Adorno-Preis zu würdigen, zeugt (…) vom instrumentellen Umgang, den man in Frankfurt mit dem Erbe der Kritischen Theorie pflegt“, schreibt etwa die linksradikale „Gruppe Morgenthau“ aus Frankfurt am Main in einer Reaktion. Das Kuratorium betreibe mit der Preisverleihung „Grabschändung“ an Adorno, der sich stets gegen Antisemitismus gewandt habe.
Brumlik: „Würdige Preisträgerin“
„Judith Butler ist als Philosophin eine würdige Preisträgerin in der Tradition des theoretischen Ansatzes von Theodor W. Adorno“, sagt der Publizist und Professor für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt, Micha Brumlik, der Zeitschrift Konkret (Juli 2012). Butler habe den zentralen Überlegungen Adornos „eine politisch-praktische Form“ gegeben. Zwar seien einige ihrer Äußerungen zum Nahost-Konflikt „schlicht und ergreifend bodenloser Unsinn“. Dies schmälere aber nicht ihr philosophisches Lebenswerk.
Die Gruppe Morgenthau will das nicht gelten lassen. „Anders, als Brumlik meint, steht Butlers Engagement gegen Israel und die USA im Namen einer Weltinnenpolitik, die jüdisches Leben erneut der Gefahr der Vernichtung aussetzt, durchaus in Zusammenhang mit ihren theoretischen Überlegungen.“ Außerdem paktiere sie mit TerroristInnen: „Während sie das Existenzrecht Israels im Namen des Rechts gefährdet, verklärt sie die Gewalt von Hamas, al-Qaida und anderen Rackets der Vernichtung als Ausdruck grenzenloser Menschlichkeit.“
Für Micha Brumlik gehen derartige Angriffe zu weit. „Judith Butler führt ihre Kritik der israelischen Politik (…) aus einer jüdisch-universalistischen Perspektive. Dabei begeht sie zweifelsohne Fehler. Die Frage, die mich dann interessiert, lautet: Wer ist eigentlich zuständig, eine Philosophin, die sich aus einer explizit auch jüdischen Perspektive heraus politisch so äußert, zu kritisieren?“ Butler stammt aus einer jüdischen Familie ungarischer und russischer Herkunft.
Kuratorium unbeeindruckt von Kritik
Für das Kuratorium selbst fallen derartige Dinge nicht ins Gewicht. „Mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis des Jahres 2012 wird eine der maßgeblichen Denkerinnen unserer Zeit geehrt. Für Fragen über Identität und Körper sind ihre Schriften maßgeblich und werden weltweit rezipiert. Als Vordenkerin eines neuen Verständnisses von Kategorien wie Geschlecht und Subjekt, aber auch der Moral, ist sie immer dem Paradigma der kritischen Autonomie verpflichtet. Spurenelemente von Butlers Theoriegebäude finden sich in Werken der zeitgenössischen Literatur, dem Film, dem Theater und der Bildenden Kunst.“
Und auch für Micha Brumlik legitimiert dies die Preisverleihung an Butler. Die Frage sei, „ob ihr politisches Engagement sie eines solchen Preises unwürdig macht und ihr ganzes sonstiges philosophisches Werk falsifiziert. (…) Ich würde auch das Werk Max Horkheimers nicht deshalb verwerfen, weil er für den Krieg der USA gegen Vietnam eingetreten ist.“ Überhaupt sei es eine „Selbstgerechtigkeit“, wenn „Leute, die mit der jüdischen Gemeinschaft ansonsten vergleichsweise wenig zu tun haben, versuchen, Juden vor sich selbst zu schützen.“
Judith Butler ist derzeit Professorin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California. Die poststrukturalistische Denkerin gilt mit ihren Schriften zu Identitätskategorien und Geschlechterforschung als eine der bedeutendsten PhilosophInnen unserer Zeit. Nichts deutet darauf hin, dass das Kuratorium angesichts der aktuellen Kritik von einer Preisverleihung absieht.
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