„Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“, schrieb schon Theodor Adorno treffend in seiner Minima Moralia. Laut dem Historiker Peter Longerich basiert der Hass auf Jüdinnen und Juden auf „weitverbreiteten Vorurteilen, tief verwurzelten Klischees beziehungsweise auf schlichtem Unwissen über Juden und Judentum.“ Der NS-Experte veröffentlichte diese Erkenntnisse vor einer Woche in einer Studie, welche vom deutschen Bundestag in Auftrag gegeben wurde. Die Ergebnisse des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, dem Longerich angehört, wurden, wohl nicht zufällig, wenige Tage vor dem Holocaust-Gedenktag präsentiert. Sie sorgten erwartungsgemäß für Empörung in Parlament und Feuilleton. Nicht überrascht gibt sich indes Charlotte Knobloch von dem Ergebnis. Die ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland mahnte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters an, dass gerade junge Menschen über den Antisemitismus aufgeklärt werden müssten. Das Thema dürfe jetzt „nicht wieder versickern“, um „keine feste Grundlage zu bekommen.“
Die MacherInnen der Studie führten als Beispiel für klassischen sekundären Antisemitismus den Fall der Popsängerin Lena Meyer-Landrut an. Als diese im Jahre 2010 bei einem internationalen Schlagerwettbewerb antrat, und im Publikumsvoting von israelischen FernsehzuschauerInnen keinen Punkt bekam, ergriff es das deutsche Gemüt. „Sofort danach (fanden) im Internet antisemitische Inhalte Verbreitung“, so „Expertenkreis“-Mitglied Juliane Wetzel von der TU Berlin. Hier „wurde (…) der sekundäre Antisemitismus bedient, indem man nämlich gesagt hat: ‚Israel verzeiht uns wohl den Holocaust nie und gibt deshalb Lena keine Punkte‘.“ Diese Geisteshaltung brachte einst der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex bissig auf den Punkt: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“.
Wie hartnäckig sich die „Gerüchte über die Juden“ in der deutschen Bevölkerung festgesetzt haben, zeigt auch der jüngst bekannt gewordene Fall von Marina Weisband. Wie zur Bestätigung der Studie hat die gläubige Jüdin und (Noch-) Bundesgeschäftsführerin der Piratenpartei nach eigenen Angaben in den vergangenen Monaten „Hassmails“ bekommen. Diese seien antisemitisch konnotiert gewesen. Der genaue Wortlaut ist nicht bekannt, doch in welche Richtung die Schmähungen gegangen sein könnten, wird an anderer Stelle deutlich. Auf rechtsradikalen Websites sei ihr Foto veröffentlicht worden. „Daneben standen Texte darüber, wie die Juden jetzt die deutsche Parteienlandschaft erobern würden“, sagte Weisband der Presse. Und tatsächlich: Auf rechtsradikalen Seiten werden ihr angebliche Zitate in den Mund gelegt, die die „jüdischen Weltherrschaftspläne“ belegen sollen.
Mythos Weltbeherrschung
Das Bild des klandestin die Politik lenkenden Juden ist eines der gängigsten Annahmen in der jüngeren Geschichte des Antisemitismus. Antijüdische Karikaturen „veranschaulichen“ dies gerne mit dem Handpuppenprinzip. Gezeigt wird beispielsweise ein Jude, der den amerikanischen Präsidenten als Handpuppe benutzt. Dieser wiederum kontrolliert dann seinerseits mit der Hand wichtige Institutionen wie etwa die Nato. So soll gezeigt werden: Hinter allem steckt „der Jude“.
Große Popularität erlangte das Hirngespinst mit der Veröffentlichung der sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“. Das antisemitische Schriftstück tauchte erstmalig 1903 im zaristischen Russland auf. Es soll ein Geheimtreffen von Juden dokumentieren, die planen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Die unsägliche Fälschung soll HistorikerInnen zufolge in russischen Geheimdienst-Kreisen verfasst worden sein. „Die Juden“ planten der Schrift zufolge, Kommunismus, Kapitalismus und Liberalismus zu fördern, um, durch die Kollision der sich widersprechenden Systeme, die Menschheit in Chaos zu stürzen. Auch Wirtschaftskrisen, Kriege und Seuchen sollen verursacht werden, so der Mythos.
Hirngespinste zwischen Buchdeckeln
Vor allem in der arabischen Welt erfreut sich das Buch großer Beliebtheit. ExpertInnen erklären dies in erster Linie damit, dass sich die Menschen in der Region vom „Westen“ übervorteilt sehen. Dies sei eine Folge des europäischen Kolonialismus, welcher die Modernisierung in vielen arabischen Ländern stark gehemmt habe. Vor allem das westlich orientierte Israel gilt Vielen als Statthalter des westlichen Imperialismus im arabischen Raum. Als Auftakt des „Booms“ der „Protokolle“ in der Region bezeichnen HistorikerInnen das Jahr 1938. Auf einer Konferenz der Muslimbrüder in diesem Jahr wurden arabische Versionen der „Protokolle“ und Hitlers „Mein Kampf“ verteilt. BeobachterInnen schätzen, dass es im arabischen Raum rund 60 verschiedene Ausgaben der „Protokolle“ gibt. Sie verzeichnen eine steile Karriere: In Ägypten etwa dienten sie als Grundlage für eine Fernsehserie, in Saudi-Arabien wurden sie an Staatsgäste wie Henry Kissinger verschenkt. Die im Gazastreifen regierende palästinensische Hamas beruft sich in ihrer Charta auf die Protokolle, und die palästinensische Autonomiebehörde nahm sie sogar als authentisches Dokument in Schulbücher auf. Auf der Frankfurter Buchmesse 2005 wurde die Fälschung am iranischen Stand gar zum Verkauf angeboten.
Dies lässt viele ExpertInnen aufhorchen: Sie weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig es sei, abseits des Gedenkens an vergangene Verbrechen, eben auch aktuelle, bedenkliche Entwicklungen in der Welt im Auge zu behalten. Prominente Vertreterin dieser These ist etwa Susanne Hirzel. Die Wegbegleiterin Sophie Scholls ist die letzte Überlebende der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, welche den Nationalsozialismus bekämpfte.
Bigotterie der politischen Klasse
Überhaupt werden ehemalige WiderstandskämpferInnen und ZeitzeugInnen gerne bemüht, wenn das offizielle Deutschland zu Gedenken gedenkt. Im Bundestag wurden auch zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag wieder ehrfürchtig die Köpfe gesenkt – um nach ein paar blumigen Worten wieder zur Tagesordnung überzugehen. Bezeichnend indes, wie antifaschistische Initiativen, die tagtäglich, abseits medialer Beachtung, gegen Antisemitismus und Rassismus kämpfen, von eben dieser Politik ausgebremst werden. Da werden einem Kulturzentrum auch gerne mal Gelder für Infomaterial gestrichen, mit dem dieses über ein ehemaliges KZ-Außenlager informieren wollte. „Maßnahmen zur Extremismusprävention“ heißt das dann. Solange dies so bleibt, kann „Nie wieder Auschwitz“ nur ein Lippenbekenntnis bleiben.
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