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Die Untersuchung, die KritikerInnen als undifferenziert bezeichnen, löste sodann die mittlerweile für Online-Themen typischen Reflexe aus. So will Mechthild Dyckmans etwa „Computer- und Onlinesucht (…) zu einem Arbeitsschwerpunkt ihrer Behörde machen“. In den Medien ist von einem „Horrorszenario“ die Rede, Internet-Konsum wird in einem Atemzug mit harten Drogen genannt.

Bist du ein Internetjunkie?

Wer wissen will, wie die vermeintlich Gefährdeten selbst ihre Lage beurteilen, muss sich vorwagen ins Herz des Sündenpools. In der Netz-Kommune reagiert man zuweilen verwundert auf die „künstlich aufgebaute Trennung zwischen Realität und Internet“, wie etwa im Internet-Forum der sich momentan im Aufwind befindenden Piratenpartei. Dieser Ort scheint geeignet, sich mit und nicht über Internet-UserInnen zu unterhalten. Hier schmunzelt man über die pauschale Kategorie des Online-Seins, es gebe schließlich heutzutage genug Berufe, bei denen eine stundenlange Internetnutzung Alltag sei. „Wenn die jetzt auch noch privat in ihrer Freizeit surfen, müssten die ja schon längst zwangseingewiesen sein“, befindet ein Nutzer.
Im offenen Chat der Piraten liest man heraus, dass einige der hier Anwesenden einen beträchtlichen Teil ihres Tages mit Netz-Themen befassen. Für viele hier gehört das Surfen auf der Informationswelle längst „zum Leben dazu wie Brot und Wasser“, wie auch Enrico Sempert weiß. Der 29jährige ist Versicherungsfachmann und, wie er betont, „überzeugtes Mitglied der Piratenpartei“. Er hat kein Verständnis für das Abstempeln argloser Netzaffiner zu Süchtigen. Für ihn hat die Debatte, man merkt es seinen Aussagen an, einen etwas überholten Charakter. Im Internet bewege man sich schließlich nicht nur zum bloßen Zeitvertreib, „das Netz ist mittlerweile ein Arbeitsplatz“. Und so ist auch Sempert einer von Vielen, die ihre Arbeit und ihre Projekte im Cyberspace erledigen. Angesichts der jüngsten Berichte über chinesische Militärkrankenhäuser, in denen Jugendlichen auf „Internet-Entzug“ dubiose Medizin-Cocktails injiziert werden, klingt dies reichlich harmlos.

Internet und Alltag

Doch genau hier zeichnen sich die Grenzen der verschiedenen Arten von Internetnutzung ab, die von Politik und Medien derzeit fröhlich in einen Topf geworfen werden. Verbringt die eine Gruppe tatsächlich den Hauptteil ihres Tages vor endlosen Online-Games, bricht tot zusammen oder ersticht ihre Mitspieler im Streit, organisiert die andere Gruppe den Hauptteil ihres Tages um das Netz herum, nutzen es als Strukturstifter. Sie konzentriert aufwendige Tätigkeiten, die ohnehin erledigt werden müssen auf ihrem Laptop, Smartphone oder Touch-Pad und kann sich dabei sehr wohl im „realen Leben“ bewegen.
Wer sich allerdings hinter selbstgewählte Avatare zurückzieht, um in epischen Kämpfen Anerkennung zu erlangen, wird auf Dauer eben diese temporär-anonyme Wertschätzung nicht mehr missen wollen. In extremen Fällen sind dann aber augenscheinlich andere, auch psychische  Ursachen maßgeblich für den Verlauf der „Erkrankung“ inklusive Entzugserscheinungen. Hier also ausschließlich das Internet an sich als auslösend zu brandmarken, wie dies in der letzten Woche in vielen Medien der Fall war, geht am Kern des Problems vorbei. Sempert beispielsweise betont, dass es doch auch immer echte Menschen seien, die hinter den Computern sitzen. Auch könne man übers Netz hinaus mit seinen Online-Bekanntschaften in Kontakt treten. Damit weist er Kritik zurück, soziale Kontakte, welche im Netz stattfänden, wären nicht „echt“.
Und so hat die Studie unfreiwillig doch noch eine notwendige Diskussion angestoßen: Die Frage, ob und in welchem Umfang virtuelle und nicht-virtuelle Realität einander bedingen und wie wir darauf reagieren können.

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