Etwa hundert WissenschaftlerInnen, PolizeibeamtInnen und TechnikerInnen sollen im neuen NRW-Cybercrime-Zentrum künftig gegen Online-Betrug, Datenraub und Cyber-Mobbing kämpfen. „Von Cybercrime gehen erhebliche Gefahren für den Einzelnen und die Gesellschaft aus“, hat NRW-Innenminister Ralf Jäger in seiner Eröffnungsrede eine angeblich auch statistisch nachweisbare Gefahr beschworen. Rechtsanwalt Udo Vetter ist Betreiber der Internetseite lawblog.de und widerspricht dieser Einschätzung: „Die Kriminalitätsstatistik NRW zeigt vor allem, dass über 96 Prozent aller Straftaten keinen Bezug zum Internet haben“, sagt Vetter, dessen Blog kürzlich mit dem Grimme Online-Award ausgezeichnet worden ist. Die Aufklärungsrate liege bei Internetdelikten sogar wesentlich höher als bei anderen Verbrechen. Vetter gegenüber der bsz: „Das Internet ist eben kein rechtsfreier Raum. 99 Prozent aller Aktivitäten im Netz sind nicht nur legal, sondern auch grundsätzlich gesellschaftlich erwünscht.“ Hundert angebliche SpezialistInnen für Computer- und Internetkriminalität allein in NRW hält Vetter für unverhältnismäßig. „Das ist eine erschreckend hohe Zahl. Klingt ein bisschen nach Big Brother.“ Der Mehrwert des neuen Zentrums sei nicht ersichtlich: „In konkreten und begründeten Einzelfällen kann das Landeskriminalamt sowieso externe Hilfe heranziehen, sollte es überfordert sein.”
Ein erklärtes Ziel des Überwachungszentrums ist nämlich auch: Verbrechen verhindern, noch bevor sie geschehen. Solche Pre-Crime-Konzepte stehen allerdings in Spannung zu wichtigen Grundrechten, etwa dem Prinzip, dass jedeR als unschuldig zu gelten hat, bis die Schuld nachgewiesen ist. In demokratischen Staaten gilt es als Errungenschaft, dass die Polizei nur sehr eingeschränkte Rechte hat, präventiv tätig zu werden. Hausdurchsuchungen zum Beispiel sind nur bei konkreten Verdachtsmomenten und mit Gerichtsbeschluss erlaubt, oder wenn Gefahr in Verzug ist. „Gefahrenabwehr durch Internetüberwachung ist wie Stochern im Nebel. Sie richtet sich immer auch gegen Unschuldige“, so Udo Vetter. Die Zusammenlegung von Kompetenzen im Cybercrime-Zentrum nährt zumindest den Verdacht, dass die Grenzen zwischen Ermittlung und Überwachung verschwimmen. Bettina Gayk, Pressesprecherin des NRW-Datenschutzbeauftragten sagt: „Das Zusammenfassen von Know-How ist unproblematisch, solange die im Grundgesetz festgelegten Grenzen zwischen Verfassungsschutz und Polizeiarbeit gewahrt werden.“ Udo Vetter ist da skeptisch: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Arbeit im Cybercrime-Zentrum ohne Kontakte zum Verfassungschutz vonstatten gehen wird.“
Dass die Bekämpfung von „Cybercrime“ nicht nur in NRW gerade Hochkonjunktur hat, liegt für Vetter auch an einem generellen Trend zur Dämonsierung des Netzes durch PolitikerInnen. „Meinungsfreiheit existiert durch das Internet erstmals nicht mehr nur auf dem Papier. Die Menschen äußern sich ständig und unkontrolliert öffentlich”, so der Anwalt. Das scheine den politischen Wunsch nach Überwachung zu verstärken.
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