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bsz: Inwiefern kann ihr Forschungsprojekt als Pionierarbeit bewertet werden?
Professor Jähnichen: Dieses Projekt hat erstmalig einen Gesamtüberblick über die konfessionelle Heimerziehung erarbeitet, mit den Schwerpunkten NRW, Niedersachsen und Bayern, wo sich überdurchschnittlich viele konfessionelle Einrichtungen befanden. Bisher gab es nur Studien zu einzelnen Heimen, etwa zu dem berüchtigten Heim in Freistatt bei Diepholz in Niedersachsen, das zu den Betheler Anstalten gehört hat.

Was leisten Ihre Ergebnisse hinsichtlich einer Aufarbeitung im Bereich der Heimarbeit?
Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Heimkinder unter besonders schwierigen Bedingungen aufwachsen mussten: Dies gilt äußerlich im Blick auf die Bauten, Unterkünfte und Formen der Verpflegung, dies gilt hinsichtlich der großen Strenge in der Erziehung, oft verbunden mit Schlägen, vereinzelt Misshandlungen und auch Fällen sexuellen Missbrauchs. Demgegenüber gab es zu wenig Förderung, etwa im schulischen und beruflichen Bereich. Mit diesen Erfahrungen wurden die Kinder und Jugendlichen zudem in der Regel allein gelassen.

Was genau meinen Sie, wenn Sie anregen, den „Heimkinderstatus“ zu entstigmatisieren?
Diese Kinder wurden damals etwa in der Schule als „Heimkinder“ stigmatisiert; es war sehr häufig geradezu ein Schimpfwort. Die Herkunft aus Heimen konnte den gesamten weiteren Lebensweg negativ prägen. Diese Verletzungen, Verweigerung von Chancen und oft einem schwierigen Lebensweg als Folge der Heimerziehung zu verstehen und angemessene Hilfen anzubieten; dies bedeutet, diesen Status zu entstigmatisieren.

Wie beurteilen Sie das Ausmaß, in dem die kirchlichen Aufsichtsorgane konfessioneller Heimeinrichtungen versagt haben?
Versagt haben sowohl die staatlichen wie die kirchlichen Aufsichtsorgane. Die kirchlichen Aufsichtsorgane wussten um die oft schwierige Situation in den Heimen, wollten aber in den Heimen selbst und in der Öffentlichkeit „Ruhe“ haben. Wenn es massive Probleme gab, hat man versucht, dies intern, etwa durch Versetzungen, zu regeln. Die staatlichen Einrichtungen, etwa Jugendämter, haben bei ihren Kontrollen zumeist nicht richtig hingesehen. Auf diese Weise hatten Heimkinder kaum jemanden, der von außen intervenieren konnte – nicht zuletzt weil ja deren Eltern sehr oft auch desinteressiert waren oder keine Möglichkeiten einer Hilfe sahen.

Welche konkreten Folgen haben sich aus dem Umstand ergeben, dass sowohl kirchliche Träger als auch staatliche Instanzen für die Einrichtungen verantwortlich waren?
Die Jugendämter und Gerichte haben die Einweisungen verfügt und die formale Kontrolle gehabt, die kirchlichen Einrichtungen haben versucht, die Kinder und Jugendlichen in ihren Heimen unterzubringen. Es gibt aber keine nennenswerten Differenzen zu kommunalen Heimen oder solchen in der Trägerschaft anderer Wohlfahrtsverbände. Insofern ist hier kein besonderes Problem anzuzeigen.

Wie hat sich insbesondere der Faktor der religiösen Erziehung auf den Umgang mit den Kindern und Jugendlichen ausgewirkt?
In den Heimen gab es in der Regel die Pflicht zur Teilnahme an religiösen Veranstaltungen, der Tageslauf war oft von Gebeten, Andachten und anderem geprägt. Dabei wurde einerseits die biblische Botschaft von Liebe und Barmherzigkeit verkündigt, andererseits oft Gott als oberster „Aufpasser“ instrumentalisiert. Für viele Kinder und Jugendliche war dies sehr widersprüchlich – oft liegt eine Entfremdung von den Kirchen in solchen Erfahrungen begründet. Seit den 1960er Jahren lockerte sich die Pflicht zur Teilnahme an religiösen Veranstaltungen; dann mussten diejenigen, die nicht dabei sein sollten, sogenannte stille Zeiten einhalten.

Gibt es konkrete Handlungsanweisungen an staatliche oder kirchliche Stellen, die Sie aus den Ergebnissen Ihres Forschungsprojektes ableiten würden?

Als Konsequenzen fordern wir, dass den Heimkindern ermöglicht wird, durch die Offenlegung von Archiven unter anderem ihre Geschichte zu rekonstruieren. Dies ist vielen wichtig, nicht immer erhalten sie die notwendige Unterstützung dabei. Dann sind Angebote der Hilfen bei der Bewältigung der oft traumatischen Erfahrungen notwendig, viele benötigen therapeutische Unterstützungen. Schließlich sind materielle Hilfen geboten, etwa wenn Arbeitszeiten in den Heimen nicht für die Rente angerechnet werden.

Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund ihres Forschungsprojektes die zunehmende Tendenz, Betreuungseinrichtungen (wie Alten-, Pflege- und Kinderheime) zu privatisieren oder über Tochterunternehmen auszulagern?

Entscheidend ist unserer Meinung nach die Sicherstellung einer guten Aufsicht. Generell ist die Tendenz zu beobachten, dass Heime mit einer Gewinnorientierung im Blick auf die Qualifikation und Entlohnung des Personals niedrige Standards setzen – oft mit problematischen Konsequenzen. Daher sollte es über die Aufsicht hinaus noch deutlichere und verbesserte Standards geben, um überhaupt die Genehmigung zur Eröffnung solcher Einrichtungen zu erhalten. Andernfalls droht ein „race to the bottom“ – so ähnlich wie es aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen vor allem in den 1950er Jahren bei der Heimerziehung der Fall gewesen ist.

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