Als am 30. August 2009 Wolfgang Wendland als parteiloser Kandidat auf der Liste der Partei Die Linke in die Bezirksvertretung Bochum-Wattenscheid gewählt wurde, sahen viele Fans das Ende der Kassierer gekommen. Sollte das Urgestein des Deutschpunks auf seine alten Tage etwa seriös geworden sein? In diesem Fall wären Die Kassierer Geschichte gewesen, denn Wendland ist die Band. Sein Wahngesang gepaart mit einer rücksichtlosen Freikörperkultur hat eine ganze Generation regionaler Pöbelrocker geprägt. Bands wie Lokalmatadore oder Eisenpimmel wären ohne Die Kassierer nicht denkbar. Als Slime noch „Yankees raus“ skandierten, beschritten die Wattenscheider mit ihrer Stumpf-ist-Trumpf-Attitüde neue Wege. Sie rühmten sich, das Ficklied erfunden zu haben. Damit hatten sie sich nicht nur Freunde gemacht. Es folgten Boykottaufrufe, diverse Veröffentlichungen waren vom Index bedroht.
Wichsen, Kot und Radioaktivität
„Man kann im Ruhrgebiet nur überleben, wenn man sich nackig macht“, bemerkte Wendland unlängst im Soundcheck-Interview auf derWesten. Der Aspekt der nackten Körperlichkeit mag auch für die Texte der Band zutreffen. Seit 25 Jahren werden die Wattenscheider nicht müde über Alkoholexzesse, Ekel-Sex und Alltags-Misanthropie zu singen. Songs wie „Sex mit dem Sozialarbeiter“ oder „Abschaum der Nacht“ sind zu Gassenhauern geworden. Die Bühnenshow war von Anfang an so orgiastisch wie gefährlich zugleich. Als But Alive ihr Publikum noch politisch aufklären wollte, ging man im Ruhrgebiet Richtung GG Alin. Ein Trend etablierte sich. Der Szene-Poet Adolf Abartig begann auf seinen Lesungen, sich mit Rasierklingen die Unterarme aufzuschneiden, die aufstrebenden Kellerbands setzten auf Rumpel-Stumpf und der Sound der Fanzines wurde nach einer Akademiker-Phase wieder vulgärer. Hatte die Szene gestern noch im OX-Fanzine vegane Rezepte ausgetauscht, so ging nun Willi Wuchers Scumfuck-Tradition durch alle Hände. Nicht jeder freute sich über diesen kleinen Hype. Spätestens seit dem Habe-Brille-Album waren Die Kassierer massiv vom Index bedroht. Hilfe kam von der RUB. Der Germanist Thomas Hecken erstellte ein Gutachten und attestierte den Behörden, dass es sich um ein Kunstprodukt handle, weshalb das Album nicht vom Markt genommen wurde. Dann kam es zu Vertriebsproblemen. So hatte beispielsweise der Geschäftsführer der WOM-Filiale in Nürnberg auf alle Platten das Wort „Dreck“ geschrieben und wieder zurückgeschickt.
Die Kassierer polarisierten. Jetzt sind sie zurück, doch die Zeit hat die Band eingeholt. Provokationen liefert heute vielleicht noch der G-Rap. Das Scherenbesteck der Vulgarität wie die Worte „Ficken“ oder „Fotze“ gehören mittlerweile zum Standardrepertoire jeder Grundschule. Was damals zu Entrüstungsstürmen führte, verlangt dem Szenekundigen heutzutage ein müdes Lächeln ab. Wer jetzt noch provozieren will, der hat es schwer.
Zitronenhai versus Unterwasserpapagei
Aber vielleicht liegt gerade in dieser Post-Provokations-Phase die Chance für eine neue Rezeption der Kassierer. Denn die Kassierer waren immer mehr als nur grobschlächtige Entrüstungsgeneratoren. „Ein Zitronenhai ist doch kein Unterwasserpapapgei“, sinniert Wendland zu den Klängen der Zither auf dem neuen Album „Physik“. Es sind diese mental-sinisteren Momente in vielen Kassierer-Songs, die letztendlich den Rang der Band auch heute noch ausmachen. Dort, wo es Richtung Dada-Chanson geht, gibt es nach wie vor viel zu gewinnen. Spätestens seit ihrem Georg-Kreisler-Cover-Album „Tauben vergiften“ sind die Bezugspunkte klar. Die sogenannte Hochkultur wird ironisch ausgelotet. Immer wenn der Wahn tiefsinniger wird, wechselt auch das musikalische Sujet. „Älterer Herr“ wurde getragen von der virtuosen Jazz-Gitarre Volker Kampfgartens, bei „Menschenkatapult“ musste die Bigband ran. Von Swing bis Polka wurden bereits einige Register gezogen, um sich neben den obligatorischen Fickliedern von der Szene musikalisch abzugrenzen. Die Dekonstruktion der Texte poetisieren diese gleichsam und brechen die Zeitkristalle der Worte auf. „Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind“, so beschrieb es einst Hugo Ball. Im Dada-Chanson der Marke Kassierer begegnet der Punkrock der 80er den Avantgarden der 20er Jahre. Hier probt die geheime Kulturgeschichte, wie sie Greil Marcus in Lipstick Traces beschrieben hat, den Schulterschluss. In diesem Metier sind die Wattenscheider unerreicht. Bitte mehr davon.
Ist es also der richtige Zeitpunkt für ein Comeback? Das Konzert am 20. Januar im Bahnhof Langendreer ist jedenfalls seit Wochen ausverkauft. Außerdem gibt es in der legendären Frittenschmiede Wattenscheid mittlerweile die Pizza „Kassierer“, belegt mit Kapern und Sardellen.
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