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Seit beinahe zehn Jahren untersucht die Forschergruppe um Heitmeyer, Professor für Pädagogik an der Universität Bielefeld, Entwicklung, Dimensionen und Ursachen von Vorurteilen. Zentral dabei ist das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF), das die ablehnende Haltung gegenüber Menschen mit fremder Herkunft oder abweichenden Lebensstilen beschreibt und systematisiert. Dieser Art der Antipathie liegt eine Ideologie der Ungleichwertigkeit zugrunde: Die Abweichler werden, beispielsweise im Bezug auf ihre wirtschaftlichen Verwertbarkeit, als nicht gleichwertig betrachtet. Die GMF setzt sich aus mehreren, häufig gemeinsam auftretenden Formen der Diskriminierung zusammen und wird daher als „Syndrom“ bezeichnet. Dazu gehören neben Rassismus, Antisemitismus und Homophobie auch die Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Behinderten und Obdachlosen.

Verlierer, lernt euch zu verkaufen!

Zentrales Ergebnis der aktuellen Studie ist die wachsende soziale Desintegration der Armen durch die Reichen: Was sich auf der gesellschaftlichen Ebene in der Hegemonie neoliberalen Denkens äußert, zeigt sich im Kleinen in der „Ausweitung ökonomischer Formen auf das Soziale bis hin zur […] Beziehung des Einzelnen zu sich selbst.“ Der Wettbewerb wird zum Standardmodell für alle gesellschaftlichen Interaktionen und der Markt zum obersten Richter in sämtlichen Lebensbereichen. Die Konsequenz ist die Legitimierung und Zementierung einer zweigeteilten Sozialstruktur mit einer strikten Unterscheidung von „Gewinnern“ und „Verlierern“. Auf der einen Seite steht die Gruppe der so genannten „Leistungsträger“, die je nach Definition, beispielsweise bei Peter Sloterdijk, entweder eine kleine Bildungs- und Finanzelite oder aber alle „Steueraktiven“ BürgerInnnen umfasst. Auf der anderen Seite befinden sich, neben Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen, auch Geringqualifizierte und IndustriarbeiterInnen. Vor allem die Angehörigen der gehobenen Statusgruppen vertreten die Ansicht, dass sozial schwache Schichten für ihre Situation selbst verantwortlich seien. Fehlende Motivation, mangelnder Wille zur Innovation und die Abwesenheit von Ideen, „wie man sich gut verkaufen kann“ werden als Ursachen für die schlechte wirtschaftliche Lage des Einzelnen genannt. Vor allem in der Krise sei es nicht länger zumutbar, ökonomisch nicht-rentable Individuen durch sozialstaatliche Leistungen „mit durchzufüttern“.

Das menschenfeindliche Bildungsbürgertum

Im Abschnitt des Buches zur Rolle der Eliten findet unter anderem eine Analyse der Salonfähigkeit solcher Angriffe auf die sozial Schwachen statt. Neben Thilo Sarrazin und Guido Westerwelle äußern sich auch Wissenschaftler wie Sloterdijk oder Journalisten wie Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Zeit, in populistischer Weise über Hartz-IV- EmpfängerInnen und MigrantInnen. Ihre Botschaft kommt vor allem im Bildungsbürgertum gut an: „Bei den Veranstaltungen mit Sarrazin sitzen nicht die, die üblicherweise keine Bücher lesen“, so Heitmeyer. Am Beispiel der Hamburger Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“, die sich erfolgreich gegen die Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit zur Wehr setzte, werden biologistische Haltungen aufgezeigt. Durch die Bildungsexpansion sei ein „akademisches Proletariat herangezüchtet“ worden, das „für eine wissenschaftliche und eine gehobene akademische Laufbahn“ nicht geeignet sei. Dabei steht die Annahme einer „natürlichen“ Verteilung der Begabungen in der Bevölkerung im Hintergrund: Nur zehn Prozent seien theoretisch Begabte, die aufs Gymnasium gehörten.

Ansonsten bieten die neunten „Deutschen Zustände“ einen Vergleich der GMF im europäischen Raum, interessante Fallgeschichten (mit lokalem Bezug: eine detaillierte Analyse der „Autonomen Nationalisten“ in Dortmund) und einen Exkurs zur Rolle der Politik. Die Beiträge sind durchweg spannend geschrieben, erfordern jedoch teilweise Grundkenntnisse in den Methoden der empirischen Sozialforschung.

Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), „Deutsche Zustände – Folge 9“, 348 S., Suhrkamp Verlag, 2010, 15,00 Euro

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