Hanno Jentzsch: Die Protest-Agenda pragmatisch ordnen
Pragmatiker, das klingt nach „neuer Mitte“, visionslos, uninspiriert und trocken. In der taz klingt es sogar so, als gäbe es tatsächlich ein „entweder…oder“. Pragmatiker bin ich aber, obwohl ich mich ganz und gar nicht dagegen wehre, den studentischen Protest auch als gesamtgesellschaftliche Bewegung zu verstehen. Als Pragmatiker verstehe ich mich sogar, gerade weil ich die so genannten „radikalen“ Maßnahmen wie Straßenbesetzungen für richtig und wichtig halte – und nicht für radikal. Eine Protestbewegung braucht Öffentlichkeit, die sie sich eben auch selber schaffen muss. Als Pragmatiker verstehe ich mich in erster Linie, weil ich mir Sorgen um die Breitenwirkung der gegenwärtigen Protestwelle mache.
Ich bin davon überzeugt, dass der Erfolg der Proteste davon abhängt, eine möglichst große Zahl von Studierenden zu gewinnen. Studierende haben keine effektive Lobby. Wir sind eine politisch heterogene Gruppe, deren Protest für die Politik erst dann richtig interessant wird, wenn wir viele sind, wenn wir Integrationskraft haben. Es kann daher nicht richtig sein, sich auf Forderungen zu versteifen, die für einen großen Teil der Studierenden abschreckend wirken. Das politische Bewusstsein des deutschen akademischen Nachwuchses ist ausführlich untersucht und für mangelhaft befunden worden. So weit verbreitet die latente Unzufriedenheit mit BA/MA, Studiengebühren und schlechten Studienbedingungen sein mag – die Bereitschaft, die berühmte Systemfrage zu stellen, ist bei den meisten Studierenden nicht da. Abstrakte, weit reichende gesellschaftspolitische Forderungen halten viele potenzielle Unterstützer_innen davon ab, sich zu engagieren. Dieser Protest braucht aber auch und gerade die Studierenden, die sonst nicht auf die Straße gehen. Wer mit Kapitalismuskritik nichts anfangen kann, sollte ebenso willkommen sein wie die politischen Visionärinnen und Visionäre. Nur indem Gegenstimmen in die Proteste integriert werden, kann verhindert werden, dass am Ende die immer gleichen Aktivist_innen ihren Kampf gegen Windmühlen führen. Nur so kann letztlich verhindert werden, dass sich konservative Asten – wie zum Beispiel im Fall Duisburg-Essen – als konstruktives und pragmatisches Gegengewicht zum Bildungsstreik profilieren können.
Um die Integrationskraft der Proteste zu erhöhen, müssen die Protagonist_innen des Bildungsstreiks jetzt bereit sein, ihre politische Deutungshoheit über die Bedürfnisse der Protestierenden aufzugeben. Diese Forderung geht einerseits an die Aktivist_innen, die sich um die Initiierung der Proteste verdient gemacht haben und deren Engagement auch weiterhin wichtig bleibt. Die politische Deutungshoheit gehört aber andererseits auch nicht in die Hände der verschiedenen Partei-Organisationen, die kurz vor der NRW-Wahl versuchen, die Proteste für ihren Wahlkampf zu instrumentalisieren. Die Agenda des Bildungsstreikes sollte nicht als starre Doktrin erscheinen, in der sich die bisher stille unzufriedene Mehrheit nicht wiederfindet. Sie kann erst recht nicht in Parteizentralen erarbeitet werden. Sie muss das lebendige Ergebnis der Protestdynamik sein. Gegebenenfalls gilt es dabei zu akzeptieren, dass gesamtgesellschaftliche Forderungen nicht ganz oben auf dieser Agenda stehen. Das muss ganz und gar nicht heißen, dass wir diesen Anspruch unserer Proteste aufgeben. Es heißt nur, dass die Agenda neu geordnet wird.
Die Forderungen des Bildungsstreiks greifen ja ohnehin ineinander. Kostenpflichtige Bildung ist überall unsozial – ob an der Hochschule oder im Kindergarten. Wer die Selektivität des gebührenfinanzierten BA/MA-Systems kritisiert, kommt nicht umhin, auch über die katastrophalen sozialen Implikationen des dreigliedrigen Schulsystems nachzudenken. Aber: Dieser Protest ist – noch – in erster Linie ein Hochschulprotest. Es ist strategisch sinnvoll, diese Tatsache anzuerkennen und erst einmal hochschulpolitische Themen in den Mittelpunkt zu stellen. Ein Eintreten für die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen hat mehr Aussicht auf Erfolg, wenn wir im Hochschulbereich Integrationskraft beweisen. Dazu gehört zum Beispiel, schnellstmöglich den akademischen Mittelbau in die Proteste zu integrieren. Der größte Teil dieser Gruppe stimmt mit vielen Punkten auf der Bildungsstreik-Agenda überein – arbeiten wir also zusammen. „Politik“, schrieb Max Weber, „ist das langsame Bohren dicker Bretter“, oder einfacher: First things first. Wir brauchen die Ökonomisierung der Protestbewegung!
Rolf van Raden: Monothematische Bildungsproteste? Ein Widerspruch in sich.
Keine Frage: Die Pilotenvereinigung Cockpit und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) sind erfolgreicher mit ihren Streiks als die Studierenden. Und ja, die kampferprobten kleinen Gewerkschaften formulieren klare Forderungen nach mehr Einkommen – und dann stiften sie durch Streiks so lange Chaos, bis die ArbeitgeberInnen nachgeben müssen. Niemals kämen sie dabei auf die Idee, eine Abschaffung von Hartz IV zu fordern. Praktisch, pragmatisch, gut? Für die Gehaltskonten der LokführerInnen und PilotInnen vielleicht. Aber das Modell lässt sich aus mehreren Gründen nicht auf die Bildungsproteste übertragen.
Das Problem ist gar nicht einmal, dass die Studierenden nicht in einem ähnlichen Ausmaß das öffentliche Leben stören könnten. Im Sommer 2006 wurden bei den Protesten gegen Studiengebühren wiederholt Gleise auf großen Hauptbahnhöfen besetzt – die Zugausfälle und Verspätungen waren so manchem GDL-Warnstreik ebenbürtig. Auch durch die massenhaften Autobahnbesetzungen bekamen die PolitikerInnen ein Argumentationsproblem: Wenn Studi-Proteste und die dazugehörigen Polizeieinsätze in einem Sommer volkswirtschaftlich wahrscheinlich mehr kosten, als das Land in der gleichen Zeit durch Studiengebühren einnimmt, ist es dann sinnvoll, sie zu erheben? In Hessen ist so ein Klima entstanden, in dem es eine neue Landtagsmehrheit für geboten hielt, als allerersten politischen Beschluss die Studiengebühren wieder abzuschaffen.
Nein, das Problem liegt woanders. Monothematische Bildungspolitik-Proteste sind ein Widerspruch in sich. Denn selbst die kastriertesten Bildungsstreik-Forderungen gehen glücklicherweise weit über ein egoistisches „mehr Geld für uns“ hinaus. Eine Kritik an Studiengebühren, an mangelnder hochschulinterner Demokratie und am Bachelor macht nämlich nur dann Sinn, wenn man auch deutlich macht, dass die Uni eben kein privatisiertes Wirtschaftsunternehmen wie etwa die Lufthansa oder die Bahn werden soll.
Und wenn die Studierenden schon Hörsäle besetzen, dann ist es doch nur konsequent, wenn sie dort praktisch vorleben, wie sie sich Universität vorstellen. Es wäre doch absurd, mehr Freiheit für Forschung und Lehre zu fordern, aber in den erkämpften Räumen nicht damit anzufangen. Und wie unglaubwürdig wäre es, sich über die Selektivität des Bildungssystems zu beklagen, andererseits aber nicht damit zu beginnen, andere soziale Gruppen einzuladen? Wer so aber ins Gespräch mit denen kommt, die unter der Selektivität des Bildungs- und Sozialsystems noch mehr zu leiden haben als wir erfolgreiche Ex-AbiturientInnen, wird nicht umhin kommen, auch deren Forderungen ernst zu nehmen. Und ehe man sich versieht, ist man vom eingeschränktesten bildungspolitischen Programm bei Diskussionen über Hartz IV, über Arbeitsplatzsicherheit oder auch über die Ausgrenzung von Flüchtlingen und MigrantInnen angekommen.
Und wenn sich nach weiteren Debatten gemeinsame gesellschaftliche Forderungen entwickeln, wäre das nicht das beste, was passieren kann? Glücklicherweise stehen wir nicht ganz am Anfang.VertreterInnen der Bochumer Gewerkschaften, Sozialverbände und der Opel-Beschäftigten haben sich eindrucksvoll mit der Besetzung des RUB-Audimax solidarisiert. „Wenn ihr ruft, sind wir da, denn wir haben auch eure Solidarität mit uns nicht vergessen“, erklärte der Bochumer Opel-Betriebsratsvorsitzende Rainer Einenkel. In der Tat: Bisher haben es die aktiven Studierenden als ihre Aufgabe angesehen, die Beschäftigten bei ihren Tarifstreiks zu unterstützen und auch bei den Opel-Protesten vor Ort zu sein. In städtischen Bündnissen arbeiten sie ebenso mit. Das funktioniert nicht erst seit gestern: Als im Sommer 2006 weit über tausend Studierende den Senatssitzungssaal der Ruhr-Uni stürmten und so die Einführung von Studiengebühren zumindest ein Semester lang verzögerten, waren nicht nur VertreterInnen ganz unterschiedlicher sozialer Initiativen, sondern auch Bergleute von Deilmann-Haniel mit von der Partie.
Der studentische Protest wäre wahrlich arm dran, wenn er bei seinem Anspruch die universitären Scheuklappen anlegen würde. Und zwar nicht nur, weil man sich zu Recht fragen müsste, wie ernst dann überhaupt die Forderung nach freier und gleicher Bildung gemeint sein kann. Sondern auch, weil die Studis sich ganz schön umgucken würden, wenn man sie ebenso alleine ließe. Auch in Hessen haben die Studierenden 2006 deutlich gemacht, dass sie nicht nur für ihre eigenen Vorteile kämpfen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Proteste auch ohne diesen glaubwürdigen und integrativen Anspruch erfolgreich gewesen wären.
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