Neckermann nicht nötig
Allerorten hört man, wie das Internet unser Leben verändert hat, verändert und/oder noch verändern wird. So großartige Neuerungen wie die Möglichkeit jederzeit das Wetter auf der ganzen Welt wissen zu können sind sicherlich das Großartigste, was die Menschheit je zustande gebracht hat. Dass man für seine versauten Bildchen mit nackten kleinen Chinesinnen und Chinesen drauf nicht mehr in einen klebrigen Hinterraum irgendeiner zwielichtigen Spelunke gehen muss, wo man für sehr viel Geld ein abgegriffenes Schmuddelheftchen erwerben konnte, das ist nun auch endgültig passé: Weltweite Konversation über das Wetter und die Verbreitung von Kinderpornografie sind endlich Realität geworden, dank einer Technologie in der (das ist jetzt Börsensprache) aber immer noch viel Spiel drin ist.
Denn auch scheinbar netzferne Sektoren wie das Reisen werden durch das Internet [die NPD (und bald auch: Der SPIEGEL?) schreibt übrigens Internetz] revolutioniert. Nicht nur dass man seine Reisen jetzt viel billiger kaufen kann (die arbeitslosen Reisekauffrauen und -männer werden diese finanzielle Erleichterung zu schätzen wissen), es kommt sogar die Frage auf, ob das Internet nicht generell jede touristisch motivierte Reise in Zukunft obsolet werden lässt. Schon heute sorgt das Internet dafür, dass die Arbeitgeber und Arbeitnehmer der Postkartenindustrie in ein klägliches Bibbern verfallen, wenn sie an ihre Zukunft denken: Das Online-Fotoarchiv macht das Schreiben von Ansichtskarten überflüssig (wenn es das nicht sowieso schon immer war).
Send me a postcard, darling
Anstatt vor dem Eiffelturm eine Postkarte vom Eiffelturm käuflich zu erwerben, lässt der moderne Weltenbummler mit seiner Digitalkamera ein Foto von sich und seiner Begleitung vor dem Eiffelturm von einem Passanten aufnehmen. Wenn der angesprochene Passant kein Trickdieb ist, kann der Tourist seine Fotos noch am selben Tag in sein sogenanntes online-Fotoalbum kleben (?) oder per e-mail [die NPD (und bald auch: Der SPIEGEL?) schreibt übrigens e-post] an Freunde und Verwandte und, mit dem richtigen Virus auf seinem Computer. an noch allerlei mehr Leute versenden.
Diese Tendenz, im Internet immer mehr Dinge zu veröffentlichen, die vormals als „persönlich“ galten, offenbaren nun aber ganz deutlich: All das, was man einst für persönlich hielt, ist in Wirklichkeit nichts weiter als völlige Austauschbarkeit. Die Möglichkeit unabhängig von vorgefertigten Postkarten Urlaubsgrüße zu versenden wird eifrig genutzt: in Form ebenso uniformer Fotos (man denke nur an die Szenen vor dem schiefen Turm von Pisa). Doch wenn Urlaubsfotos in Foren wie myspace.com jedermann zugänglich gemacht werden, kann man sehr schnell feststellen, was noch individuell (im herkömmlichen Sinne) und persönlich ist: Das austauschbare Gesicht auf den Fotos und sonst: Nix.
Paradoxe Yakmilchtrinker
Auch die Leute, die glauben, mit einer sogenannte Individualreise besser bedient zu sein, ihre sogenannte Persönlichkeit so besser entfalten zu können (so als wäre da zuvor etwas zusammengefaltet gewesen) etc., urlauben doch nur an einem Paradox herum. Mit einem Reiseführer der Marke „Lonely Planet“ ausgestattet, wird von „Geheimtip“ zu „Geheimtip“ gereist und der sogenannte Backpacker wird sehr schnell festzustellen haben, dass er ganz und gar nicht individuell reist, sondern Teil einer Masse von Individualtouristen geworden ist, was aber natürlich nicht heißen soll, dass dies nicht auch gefallen kann.
Doch die geschossenen Fotos sind in ihrer Art ebenso uniform wie alle anderen Urlaubsbilder auch: Statt vor dem Eiffelturm wird man von Parasiten zerfressene Füße im brasilianischen Dschungel zu sehen bekommen, statt des Dogenpalastes in Venedig wird die Bucht gezeigt, in der ein berühmter Hollywoodfilm gedreht wurde etc. Statt sich über amerikanische Rentner in Florenz zu erregen wird man sich eher über amerikanische Collegeabsolventen und deren unmögliches Betragen im Vietnamesischen Hinterland echauffieren. Doch wirken die Bilder der sogenannten Individualtouristen stets nur im Kontrast zu den Bildern der herkömmlichen Pauschaltouristen. Nur als Steigerung zur beim Louvrebesuch erlaufenen Blase ist der bei der Himalajaexpedition abgefrorene Zeh überhaupt zu verstehen.
Die Frage, die sich nun stellt ist folgende: Wenn man das alles schon weiß, warum dann noch verreisen? Wenn man schon weiß, dass die Sherpas im Himalaja irgendwann am Lagerfeuer Yakmilch anbieten werden und eine Trinkverweigerung als Affront aufgefasst würde, wenn man weiß, dass man in einem entlegenen Andenkloster seine Unterwäsche an eine schier endlose Leine wird hängen müssen, da man sonst den Zorn der Götter und der Klostervorsteherin erregen würde und wenn man weiß, dass man von diesem Sherpa, dieser Klostervorsteherin und von dieser Wäscheleine ein Foto machen wird: Warum dann noch hinfahren?
Pack die Unterhose ein
Die Alternative zum Reisen kann in Zeiten des Internets (mit ‚S’!) nur darin bestehen, sich die Bilder anderer Reisender zu beschaffen und mittels eines entsprechenden Computerprogramms derart zu manipulieren, dass man auf einmal selbst neben dem Sherpa/Klostervorsteherin/Wäscheleine zu sehen ist. Ganz ausgebuffte werden wohl auch ihre eigene Unterhose an die Wäscheleine kopieren (?).
Ein so manipulierter Vorrat an Fotos kann dann ruhig auch als Diaabend im Countryclub bei einer gepflegte Zigarre und einem schönen Glas Cognac mit entsprechenden Reiseanekdoten angereichert werden. Es empfiehlt sich zusätzlich noch einige lokale Spezialitäten als Mitbringsel zu organisieren (über das Internet?). Dinge wie Yakbutter, Condoreier und Krokodilledertaschen erhöhen die Authentizität ungemein.
Nun ist es natürlich nicht allen möglich, diese moderne Art des Reisens zu genießen, es muss schließlich immer Leute geben, die tatsächlich vor Ort ihre Zehen im Schnee zurücklassen, ihre Unterhosen an einer südamerikanischen Wäscheleine exponieren oder in vorsintflutlichen Gefängnissen auf ihren Prozess wegen Besitz eines Alligatorentäschchens warten und von diesen Ereignissen Fotos machen.
Alle anderen können ab heute „virtuell“ reisen und es gilt eine Zeile von Marius Müller Westernhagen: „Ich war nie wirklich weg. Hab’ mich nur versteckt.“
Benz
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