Folge eins: Last Christmas
Es kann nicht mehr lange dauern, dann ist es wieder einmal so weit. Man kann darauf wetten, dass es passieren wird, und es gibt tatsächlich Leute, die tun dies auch: Wetten, an welchem Tag im Jahr sie das erste Mal den hoffnungsbringenden aller Popsongs hören dürfen: Last Christmas von der unfassbaren Gruppe Wham! (mit Ausrufezeichen: unfassbar!). Denn wenn dieses Lied ertönt ist sicher: Es ist Weihnachten (also Stress) oder jemand erlaubt sich mitten im Sommer einen Scherz. Dieser Song ist wie kein anderer zum Soundtrack des Weihnachtstrubels geworden, der von anderen Leuten als in einer Amerikanisierung begriffen beschrieben wird (ersatzweise wird auch von einer Hallowinisierung des Weihnachtsfestes gesprochen).

Das ist das Alptraumszenario: Vollbepackt mit Geschenken in riesigen Tüten durch ein Kaufhaus stürmend, auf der Suche nach diesem Parfüm, das sich die Schwägerin so dringend gewünscht hat, mit dem Regenschirm nach allen Seiten austeilend, sich gleichsam eine Bresche in den KonsumentInnenmasse schlagend, dabei Gott und insbesondere den um ihn (oder heutzutage: sie/ es?) entstandenen Kult „Christentum“ verfluchend, fährt es aus den Boxen an der Kaufhausdecke auf die Konsumenten hernieder: Last Christmas. Naturgemäß in einer Lautstärke gespielt, die sämtliche Konsumgeräusche (Geldgeklimper, Packpapierrascheln, Streitereien bezüglich Produkt-/Farbauswahl) zu übertrumpfen in der Lage ist.
Das ist das Horrorszenario: Aus der sibirischen Kälte (diese wird kommen!) des 23. Dezember nach Hause zurückkehrend, das Gefühl in den Zehen des rechten Fuß dabei stetig an die Erzählungen der Stalingradveteranen im Fernsehen gemahnend, mit Weihnachtsgeschenken bepackt wie ein nepalesischer Sherpa auf einer Everesttour, die Ohren nahezu taub vom Kindergebrüll in der Innenstadt, insbesondere in der Spielwarenhandlung, in der man noch dieses furchterregende Monster für seinen Neffen kaufte, schaltet man gewohnheitsmäßig das Radio an, um die Schlusskonferenz der Bundesliga noch mit anzuhören (man ist verwirrt, geschafft und völlig am Ende und hat vergessen: es ist längst Winterpause), da schallt es bereits aus den Lautsprechern: Last christmas.
Das ist das Höllenszenario: Als nach der Bescherung klar wird, dass man die falschen Produkte in den richtigen Farben oder die richtigen Produkte in den falschen Farben oder gar die falschen Produkte in den falschen Farben verschenkt hat, die Mutter eine saure Miene zu den süßen Pralinen macht, die man ihr schenkte (edelbitter! Seit zwanzig Jahren edelbitter!), die Schwester sauertöpfisch nach dem Kassenbon für den Schal fragt (DIESE Farbe macht, dass ich aussehe wie eine ebolakranke Crackraucherin), der Vater die Zigarren mit den Worten „Hab’ vor zwei Wochen aufgehört zu rauchen“ entgegennimmt, legt der Schwager eine CD in den CD-Spieler und an seinem Gesichtsausdruck kann man ablesen, dass er die Situation mittels Musik entspannen will (nachdem er von allen anderen Anwesenden angekeift wurde, entschuldigt er sein Vorgehen genau so: Ich wollte die Situation entspannen) und keine zwanzig Sekunden später schallt es aus den Lautsprechern: Last Christmas.
Jede dieser drei Situationen wird durch das Lied Last Christmas gerettet. Dabei funktioniert der Song als lakonischer Kommentar zu den diabolischen Vorgängen rund um das Fest der Liebe. Schon das Gedudel am Anfang macht klar: Lockere Zeiten haben begonnen. Das ganze Jahr hat man sich im Fitnessstudios auf absurden Trainingsgerätschaften geschunden, in grotesken Gymnastikkursen zu der schlechtesten Musik der letzten drei Monate Bauch, Beine und Po in Form zu bringen versucht, nur um an den drei Weihnachtstagen so viele Kalorien zu sich zu nehmen, wie früher als Kind zu Sankt Martin. Locker. Das sagt das Gedudel. Dideldidum. Das Leben ist absurd und heute gibt’s noch Mal die geballte Ladung, konzentriert und unverdünnt: Familie plus Alkohol im Übermaß plus fettige Speisen plus nichterfüllbare Erwartungen an die eigene Verschenkungsfähigkeit plus Schlafentzug per X-Mas Laserbeleuchtung auf dem Dach des Nachbarn plus Wham!. Didididum.

Der herzlose George Michael

Gleich die erste Zeile weckt Hoffnung: Last Christmas. Last. Es könnte tatsächlich das letzte Weihnachten sein. Nie wieder den ganzen Zinober mitmachen. Keine Geschenke mehr. Kein Stress. Kein Glühwein aus dem Tetrapack mit Katergarantie, keine Zimtsterne zur Entdeckung einer Zimtallergie, kein Einpacken von Geschenken mehr, keine Überlegungen sich doch wirklich nichts mehr zu schenken. Vorbei. Dies ist das endgültige last christmas.
Diese zarte, empfingdliche Hoffnug auf ein Ende der Dunkelheit wird sogleich brutal zerstört. I gave you my heart. Gave, also: Vergangenheit. Es geht also nicht um dieses gegenwärtige Weihnachtsfest als das letzte aller Weihnachtsfeste, sondern um das vergangene, an dem sich der Poet (George Michael) offenbar das Herz aus dem Brustkasten schnitt und es seinem Liebsten servierte (möglicherweise auf einem Silbertablett).
Doch genau mit dieser schlauen Konstruktion macht die Gruppe Wham! alles richtig. Da sie es schaffte zuvor den Zorn und Hass der gesamten Welt auf sich zu laden, entschädigt diese Zeile für all die zerstörten Hoffnungen, die man mit der vorigen Zeile weckte: Nach dem endgültigen Ende aller Weihnachtsfeierlichkeiten ist ein entkernter (und damit zum Singen unfähiger) George Michael das zweitmeistgewünschte auf Erden.
Die nächsten Zeilen führen weiter auf dem Weg der Hoffnung: But the very next day… you gave it away. George Michaels Liebster und George Michael suchen also zwischen all ihren plüschigen Kissen und in den Ritzen ihrer schwarzen Ledercouch nach dem Herz von George Michael bis ihnen klar wird: George Michaels Liebster hat das Herz mitsamt eines riesigen Haufens Geschenkpapier weggeschmissen und es ist unrettbar verloren. Man kann sich die Vorwürfe des George Michael an seinen Liebsten vorstellen: So gehst du mit meinen Geschenken an dich um, du Schuft! (Danach: Kissenschlacht)
But this year… to save me from tears… Er hat also geweint aber auch ein neues Herz. Mit offenem Brustkorb, der ganze Körper erbebend vor Schmerz und Leid, in seinem Schnauzbart noch der Rotz vom Naseputzen sitzt er auf der Ledercouch und ersinnt einen Plan. This year. Also jetzt! Und so sitzt man seinen Szenarien, lauscht und hofft. Mitten im Kaufhausterror, die Füße auf der Heizung auftauend oder den Schal der Schwester für den Umtausch einpackend. Hoffnung keimt auf und diese Hoffnung ist genährt durch die folgende Zeile (die entscheidende) in Last Christmas: I’ll give it to someone special.
Vielleicht, so hofft man, bin ich dieser ganz spezielle Mensch. Vielleicht kommt gleich George Michael, sein Herz auf einem Silbertablett balancierend, herein, kniet vor mir nieder und bittet mich, sein Herz an mich zu nehmen. Und das ist die größte Hoffnung, die es geben kann (außer natürlich: das endgültige Ende von Weihnachten): Das Herz von George Michael von einem sterbenden George Michael auf einem Silbertablett serviert zu bekommen. Danke Wham!.
Benz

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