Bild: Große Liebesgesten im Jahre 2019: I’d throw a Molotow-Cocktail into the Schlachtfabrik for you., „Die Welle“ ist jetzt „linksextrem“?! Bild: mafa

Rezension. Wehret den Anfängen… den fiktiven linksradikalen und gleichzeitig ideologielosen Schüler*innen mit Geltungsdrang und problematischen Liebesgeschichten! Eh, what?

„Kennst du das Gefühl? Als ob du alles durch ’ne dicke Scheibe siehst. […] Manchmal musst du diese Scheibe einfach einschlagen“, sagt der 17-jährige Antiheld Tristan (Ludwig Simon) in einem Anflug von melancholischer Pathosromantik nach dem Erklettern des Schuldaches zu Lea (Luise Befort), der obere-Mittelschichts-Stufenschönheit. Tennisturniere und der Jura-Boyfriend sind vergessen, die Revolution steht an. Aber was für eine Revolution? Das weiß in der ersten Staffel der neuen deutschen Netflix-Serie „Wir sind die Welle“ von Produzent Dennis Gansel eigentlich niemand. Die Serie lehnt sich an Morton Rhues auf wahren Begebenheiten beruhendem Roman „Die Welle“ (1981) und Gansels deutscher Verfilmung von 2008 an. Beide Geschichten behandeln eine von einem Lehrer angestoßene faschistoide Jugendbewegung, die sich schnell radikalisiert. Gansels Remake stellt eine eigenständige Gruppe von Schüler*innen mit angeblich linken, antikapitalistischen und klimabewussten Tendenzen in den Fokus und problematisiert ihr Radikalisierungs- und Gewaltpotenzial. Gleichzeitig wird die Initiative aber ideologisch hohl, plan- und ziellos dargestellt.
Schlachtfabrik, SUV-Händler, Supermarkt: Wenn die fünf Protagonist*innen im Hipster-Hauptquartier, einer alten Fabrik, ihr neues Ziel erwählen, hat das eine Willkür wie beim Flaschendrehen und ist zudem äußerst cringy. Tristan, der als Anführer neben Lea die drei Außenseiter Hagen, Rahim und Zazie in seinen Bann ziehen kann, scheint zunächst der Einzige zu sein, der einen Hauch ideologischer Überzeugung mit sich bringt. Doch auch diese stellt sich als Mama-Trauma mit Rachegelüsten heraus. Überzeichnet ist der postmoderne Rebell alle Male, denn, wie ein YouTube-Video von Netflix mit dem Titel „10 Gründe warum Tristan einfach der Süßeste ist“ hervorhebt, ist er ein gutaussehender Geschichtscrack, kann Arabisch und spielt in Jogginghose „Pour Elise“ auf dem Klavier. Er ist JVA-Freigänger und halt ein „unkonventioneller Romantiker“: So gewinnt er Lea mit einem Video zurück, in dem er einen Molotow-Cocktail in eine Schlachtfabrik wirft. Dass Lea – wie Zazie, die nur den dicken Bauernjungen Hagen abbekommt – Tristan von Minute Eins geistig komplett zu verfallen sein scheint, hat auch eine sexistische Komponente. Letztendlich setzt sich Lea zwar in Fragen der Massentauglichkeit der „Welle“ über Tristan hinweg, indem sie einen unkontrollierten Aufstand anzettelt und verhindert auch seinen Anschlag auf die Waffenfabrik, den sie durch eine Demonstration ersetzt. Dennoch finden inhaltliche Diskussionen weder über den Grund für den Aktionismus noch über seine Art statt – so wirken selbst bessere Aktionen bedeutungslos impulsiv und widersprüchlich.

Die „Stuttgarter Nachrichten“ schreiben, die Unentschlossenheit der Bewegung und Serie passe zu Zeitgeist und Zielgruppe, dabei haben reale Schüler*innen-Bewegungen wie Fridays for Future souverän große Netzwerke und inhaltliche Strategien aufgebaut und kritisch diskutiert. Dass eine deutsche Serie in Zeiten eines bundesweiten Rechtsrucks eine Bewegung der „Generation Greta“, wie es in einer von vielen kritischen Rezensionen heißt, als spontan-rebellische potenzielle Gefährdung ohne Sinn und Vernunft darstellt, ist revisionistisch und höhnisch. Zwar kommen die rechtsextremen, gewalttätigen Schulhofschläger als Gegenbewegung kurz vor und werden ablehnend charakterisiert, doch erscheinen sie als ungefährliche Randphänomene, während die „linke“ Welle die Nation zu überschwemmen „droht“. Am Ende lässt die neue deutsche „Welle“ aber nur Lea feucht zurück; was macht das schon, Tristan ist doch „so süß“. „In her kiss, I taste the revolution“? Schön wär’s.

:Marlen Farina

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